Interview

"Weißer Ring" zu Übergriffen in Köln "Frau Reker hat wohl nicht nachgedacht"

Stand: 06.01.2016 20:27 Uhr

Mit ihren Verhaltenstipps für Frauen erhitzt Kölns Oberbürgermeisterin die Gemüter. Doch wie denken Experten darüber, die sich tagtäglich mit den Opfern von sexuellen Übergriffen beschäftigen? tagesschau.de hat mit Kristina Erichsen-Kruse vom "Weißen Ring" gesprochen.

tagesschau.de: Kölns Oberbürgermeisterin Henriette Reker hat mit ihrem Verhaltenstipp, eine Armlänge Abstand zu Fremden zu halten, massive Kritik und Spott einstecken müssen. Wie ist Ihre Haltung: Hat Frau Reker die Opfer mit ihrem Ratschlag indirekt zu Tätern gemacht?

Kristina Erichsen-Kruse: Nein, nicht wirklich. Ich würde sagen, sie hat einfach nicht nachgedacht. Frau Reker hat übersehen, dass solche Regeln für eine Situation wie in Köln und in Hamburg nicht gelten können. Niemand hat mit einem solchen Angriff gerechnet und alle - ob Polizei, Politik oder wir Opferverbände - sind davon überrollt worden. Solche Verhaltensregeln, wie sie Frau Reker gegeben hat, helfen bestenfalls in ganz normale Situationen.

tagesschau.de: Passiert es Ihrer Erfahrung nach oft, dass für Opfer von sexuellen Übergriffen die falschen Worte, die falsche Ratschläge gefunden werden?

Erichsen-Kruse: Das ist schon sehr oft passiert. Wenn junge Mädchen beim Heimkommen von der Disko angegriffen oder begrapscht werden, fallen oft Sätze wie: "Was hast du da auch um diese Uhrzeit gemacht?" oder früher auch "Warum trägst du so einen kurzen Rock?". Das ist alles hirnverbrannt, das ist Quatsch. Jeder Mensch sollte sich in diesem Land frei bewegen können. Das wir darüber sprechen müssen, wie man sich schützt, ist doch ein Zeichen dafür, wie sehr sich alles verändert hat. Dass wir uns jetzt, wenn wir vor die Tür gehen, fragen "Wie schütze ich mich?" Statt einfach vor die Tür zu gehen und das Leben zu genießen.

Porträt von Kristina Erichsen-Kruse.
Zur Person
Kristina Erichsen-Kruse, 73, ist studierte Kriminologin und seit 2004 die stellvertretende Landesvorsitzende des "Weißen Rings" in Hamburg. Die Organisation hilft Opfern von Kriminalität.

Schuldgefühle werden verstärkt

 tagesschau.de: Was macht es denn mit den Opfern, wenn ihnen das Gefühl vermittelt wird, sie seien an dem Übergriff selbst schuld?

Erichsen-Kruse: Die meisten Opfer fühlen sich sowieso schon schuldig an dem Geschehenen - das ist eine völlig irrationale Reaktion. Kein Opfer ist Schuld an dem, was ihm an Gewalt widerfährt. Aber durch solche unbedachten Äußerungen wird dieses Schuldgefühl der Opfer noch verstärkt, das ist das Fatale daran. Wer diese Schuldgefühle hat, sollte sich professionelle Hilfe holen und auch mit vertrauten Menschen darüber reden. Das ist der einzige Weg, damit fertig zu werden.

tagesschau.de: Gibt es auch kluge Ratschläge, die Freunde und Angehörige den betroffenen Frauen mit auf den Weg geben können?

Erichsen-Kruse: Zunächst einmal: Es gibt kein Patentrezept für den Schutz vor Kriminalität. Sie können nie sicher sein, dass Ihnen nicht irgendwie irgendwo etwas zustößt. In einem Fall wie in Köln würden wir beim "Weißen Ring" Hilfsangebote zusammenstellen, die individuell auf die jeweilige betroffene Frau zugeschnitten sind. Wir würden mit jeder Frau einzeln sprechen und fragen: Was brauchst du? Wie können wir dir helfen? Und dann können wir gegebenenfalls Vorschläge machen und diese auf Wunsch mit den Betroffen auch in die Tat umsetzen.

tagesschau.de: Also kann man sagen, dass globale Ratschläge – wie beispielsweise die von Frau Reker – nach solchen Übergriffen nie sinnvoll sind?

Erichsen-Kruse: Genau, das ist keine Lösung. Es gibt ein paar Ratschläge, die so gängig sind, dass sie jedem von alleine einleuchten müssten – etwa, sein Portemonnaie im Gedränge nie in der hinteren Hosentasche zu tragen. Das sind aber Sachen, die sind so selbstverständlich, dass es in der Regel nicht nötig ist, sie noch einmal anzusprechen. Außerdem gelten diese Regeln für den normalen Alltag. Die Dimension, die wir jetzt erlebt haben, bedarf der individuellen Rücksprache und ganz konkreter Hilfe für jedes einzelne Opfer.

"Einen Vorfall dieses Ausmaßes gab es bisher noch nicht"

tagesschau.de: Sie sagen, dass der Vorfall in Köln auch Sie als Hilfsorganisation überrollt hat. Ist dieser Vorfall wirklich außergewöhnlich oder ist es so, dass es solche Übergriffe tagtäglich gibt – die aber nicht so in die Öffentlichkeit getragen werden?

Erichsen-Kruse: Einen Vorfall dieses Ausmaßes gab es bisher noch nicht, das ist erstmalig passiert. Das Besondere an diesem Fall ist, dass sich die Täter in diesen Massen zu den Übergriffen verabredet haben. Zugleich machen wir uns beim "Weißen Ring" auch Sorgen darüber, dass Flüchtlinge nach diesem Vorfall nun zu Unrecht in den Fokus der übrigen Gesellschaft geraten. Diese Pauschalisierungen sind etwas, was nicht passieren darf. Die große Mehrheit der Flüchtlinge ist friedlich und ist bereit, sich an unsere Regeln zu halten. Das wird aber leider oft vergessen.

tagesschau.de: Welche Konsequenzen ziehen Sie aus den Vorfällen in Köln?

Erichsen-Kruse: Wir überlegen, ob wir unsere Präventionskonzepte noch erweitern müssen – beispielsweise um Kurse rund um das Thema Selbstverteidigung und Stärkung des Selbstbewusstseins.

tagesschau.de: Wo wir gerade beim Thema Selbstverteidigung sind: Es gibt einen Fall aus Bayern, wo sich eine Frau auf der Wiesn mit einem Maßkrug-Schlag gegen einen Mann gewehrt hat, der ihr unter den Rock gegriffen hat. Die Frau wurde wegen schwerer Körperverletzung festgenommen und konnte die Polizeiwache erst gegen die Zahlung eines vierstelligen Betrages verlassen. Da stellt sich die Frage: Wann und wie dürfen sich Frauen eigentlich wehren?

Erichsen-Kruse: Der Bierkrug war in diesem Fall wohl zu viel. Die Frau hätte dem Mann wahrscheinlich straflos eine Ohrfeige geben können. Ich vertrete aber die Ansicht, dass sich eine Frau gegen Gewalt in jedem Fall und immer wehren darf.

Keine zufriedenstellende Situation

tagesschau.de: Muss Ihrer Meinung nach rechtlich noch mehr dafür getan werden, dass Frauen, die sich gegen sexuelle Gewalt wehren, nicht später als Täterinnen dastehen?

Erichsen-Kruse: Nein, das glaube ich nicht. Wenn unsere Gesetze ausgeschöpft und konsequent umgesetzt werden, dann widerfährt den Opfern auch Recht. Es geht hier wohlgemerkt nur darum, dass den Opfern Recht widerfährt – es geht nicht darum, Gerechtigkeit herzustellen, weil es diese nach einer Gewalttat nicht mehr gibt.

tagesschau.de: Werden die Gesetze denn ausgeschöpft und konsequent umgesetzt?

Erichsen-Kruse: Das ist immer so eine Sache. Dem Täter muss bewiesen werden, dass er die ihm zur Last gelegte Tat auch tatsächlich begangen hat. Wenn das nicht der Fall ist, dann läuft der Täter weiter frei rum. Wenn es zu einer Gerichtsverhandlung kommen sollte, dann muss die Anklage und das Gericht die Sachlage auf Recht erkennen. Aber das hängt immer davon ab: Wer ist der Täter? Wer ist der Verteidiger? Kann sich das Opfer entsprechend artikulieren? Im Moment ist es so, dass die Opfer vor Gericht immer etwas ins Hintertreffen geraten, weil Nebenkläger nicht immer voll zum Zuge kommen. Und das ist etwas, das müsste sich ändern.

tagesschau.de: Das klingt ja nach sehr hohen Hürden. Wenn man sich jetzt den Fall in Köln anschaut, wo viele Täter noch unbekannt sind, kann das ja keine zufriedenstellende Situation sein.

Erichsen-Kruse: Nein, das ist es auch nicht. Umso wichtiger ist es, den Opfern zu signalisieren, dass ihnen geholfen werden kann, dass ihr Selbstbewusstsein wieder aufgebaut werden kann.

Das Interview führte Julia Becker, tagesschau.de