Krisenstab in Sonneberg "Wir können nicht lang rumreden"
Der Landkreis Sonneberg in Thüringen ist ein Corona-Brennpunkt. Die Obergrenze wird deutlich überschritten. Der Leiter des Krisenstabs, Jürgen Köpper, berichtet im Interview, weshalb er jetzt auf Massentests statt Lockdown setzt.
tagesschau.de: Herr Köpper, wie hoch ist der Druck in Sonneberg?
Jürgen Köpper: Die Inzidenzzahl liegt nach dem Stand heute um 12 Uhr bei 75,33 - und überschreitet damit deutlich den Schwellenwert von 50. Unser Landkreis zählt nachweislich zu den am stärksten betroffenen Regionen in Thüringen und in Deutschland.
Besondere Sorge bereitet mir die kritische Gemengelage in unserer Kreisstadt Sonneberg. Hier liegen ein Dialysezentrum, zwei Senioreneinrichtungen, Arztpraxen und unser Krankenhaus in direkter Nachbarschaft. Dieser Gesundheitscampus mit seinen zahlreichen Querverbindungen und Kontakten über die Kreisgrenze hinaus entwickelte sich zu einem geografischen Schwerpunkt des Infektionsgeschehens. Insbesondere bei Patienten und Personal häufen sich die Infektionen.
Der Landkreis Sonneberg in Thüringen überschreitet den vereinbarten Grenzwert. Infektionsschwerpunkt ist ein Krankenhaus.
tagesschau.de: Wie sieht Ihr Krisenstab aus?
Köpper: Bereits seit dem 2. März kommt unser Krisenstab täglich zusammen. Erst haben wir um 8 Uhr begonnen. Das war aber zu früh, weil dann die Lage meist noch gar nicht feststand. Nun besprechen wir uns um 9 Uhr. Unser Krisenstab besteht aus 12 ständigen Mitgliedern. Vertreten sind wichtige Ämter wie das Amt für Katastrophenschutz, Fachberater des regionalen Klinikums, Vertreter der kassenärztlichen Vereinigung Thüringen, häufig ist die Bundeswehr zu Gast, und die Polizei hat einen ständigen Sitz. Die Ämter arbeiten eng zusammen.
Sonneberg zählt knapp 24.000 Einwohner und ist Sitz des gleichnamigen Kreises. Der gilt aktuell als einer der Brennpunkte der Corona-Pandemie in Deutschland. Die Infektionsrate lag hier zuletzt bei 75,3 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner innerhalb einer Woche. Bund und Länder haben eine Quote von 50 als Obergrenze festgelegt. Wird diese überschritten, müssen Beschränkungskonzepte erarbeitet werden. Gegenwärtig (Stand: 12.05.2020) verzeichnet das Gesundheitsamt 164 Infizierte, 60 Genesene und elf Tote mit Coronavirus-Infektion.
tagesschau.de: Wie laufen die Sitzungen ab?
Köpper: Wir tagen ungefähr anderthalb Stunden und verfolgen dabei ein sehr strenges Protokoll. Jeder darf seine Sicht schildern, aber es darf nicht lang rumgeredet werden. Der schnelle Austausch der Fakten ist wichtig. Denn wir müssen möglichst schnell Entscheidungen treffen. Die Entwicklung ist so dynamisch - wir müssen schnell reagieren.
Jeden Tag bekommen wir auf Basis der Daten des Gesundheitsamtes die aktuellen Infektionszahlen durchgegeben.
tagesschau.de: Lockdown oder Lockerungen - wie groß sind die Interessenskonflikte?
Köpper: Wir verfolgen ein gemeinsames Ziel, weil unsere Infektionszahl so hoch ist: Wir müssen Spagat zwischen Freiheitsdrang und Schutzbedürfnis meistern. Wir wollen trotz der Zahlen Lockerungen zulassen, aber wir müssen auch in gewissen Bereichen einschränken. Solche Einschränkungen betreffen derzeit bei uns Altenheime und Krankenhäuser - hier gilt weiter ein Betretungsverbot. Anders als andere Kommunen konnten wir das nicht lockern. Einen kompletten Lockdown planen wir derzeit nicht.
Massentest statt Lockdown
tagesschau.de: Wie wollen Sie die akute Ausbreitung dann eindämmen?
Köpper: Im Krankenhaus wurden die Infektionsschutzmaßnahmen noch einmal erhöht. Am 8. Mai haben wir gemeinsam mit dem Krankenhaus einen Aufnahmestopp verhängt, damit sich die Lage entspannen kann.
Außerdem haben wir eine große Testaktion der 600 Mitarbeiter des Krankenhauses im betroffenen Gebiet in Sonneberg gestartet. Wir nehmen umfassend Abstriche. In zwei Tagen erwarten wir die Testergebnisse. Was dabei rauskommt, wissen wir nicht. Hoffentlich eine Mehrzahl von negativen Tests.
Mit Hilfe der Tests wollen wir eine Ansteckungsgefahr von Seiten der Klinikmitarbeiter ausschließen. Ich hoffe, damit Licht ins Dunkel zu bringen und Ansteckungsketten leichter nachvollziehen zu können und das Virus damit auszuhebeln.
Was mir Sorge bereitet: Wir bräuchten mehr Kapazitäten bei den Gesundheitsämtern. Es muss kurzfristig Hilfe kommen. Das stößt dem Krisenstab sauer auf.
"Wir brauchen Personal in den Gesundheitsämtern"
tagesschau.de: Ist das eine Forderung ans Land Thüringen?
Köpper: Nein, die Probleme gibt es - mal mehr, mal weniger - bundesweit. Das ist nicht nur in Thüringen ein Problem. Wir diskutieren schon seit Jahrzehnten, dass die Personaldecke in den Gesundheitsämtern zu kurz ist. Da muss jetzt dringend nachgebessert werden, da müssen kurzfristig Gelder zur Verfügung gestellt werden, um der Lage Herr werden zu können.
tagesschau.de: Ist die Obergrenze von 50 Fällen aus Ihrer Sicht sinnvoll?
Köpper: Das muss man von Fall zu Fall betrachten. Wenn wir die Situation im Landkreis Sonneberg nehmen, wo sich die hohe Inzidenzzahl vor allem aufgrund eines eingrenzbaren Ortes ergibt, dann würde ich die Sinnhaftigkeit der Zahl anzweifeln. Das wäre anders, wenn die Inzidenzzahl jedoch aus den gesamten Landkreis kommen würde.
Wir haben in den vergangenen Tagen so viel über R-Faktoren und Inzidenzzahlen gestritten, morgen kommt vielleicht eine andere Zahl - das ist wenig hilfreich. Entscheidend ist doch, dass wir die Infektionsketten unterbrechen und das Virus eindämmen - bis zu dem Punkt, wenn Impfungen und Medikamente vorliegen.
Das Interview führte Judith Pape, tagesschau.de