Bundesverfassungsgericht Kürzungen für Asylbewerber verfassungswidrig
Alleinstehende Asylsuchende bekommen seit 2019 weniger Geld, wenn sie in einer Sammelunterkunft leben. Das ist verfassungswidrig, urteilte nun das Bundesverfassungsgericht.
Alleinstehenden Asylbewerbern dürfen nicht länger die Sozialleistungen pauschal um zehn Prozent gekürzt werden, weil sie in einem Flüchtlingsheim leben. Das hat das Bundesverfassungsgericht entschieden. Es sei nicht erkennbar, dass dort tatsächlich Einsparungen durch gemeinsames Wirtschaften erzielt würden oder werden könnten, teilte das Gericht mit. Die zum 1. September 2019 eingeführte "Sonderbedarfsstufe" verstoße gegen das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums.
Die damalige Bundesregierung aus CDU/CSU und SPD war der Ansicht, dass in den Sammelunterkünften ein Zusammenwirtschaften "erwartet werden" könne. Einspareffekte bestünden zum Beispiel beim Essen, "indem Lebensmittel oder zumindest der Küchengrundbedarf in größeren Mengen gemeinsam eingekauft und in den Gemeinschaftsküchen gemeinsam genutzt werden", wie es in der Gesetzesbegründung heißt. Deshalb wurde der Satz gekürzt - entsprechend dem für Menschen, die verheiratet sind oder mit einem Partner zusammenleben.
Gemeinsames Wirtschaften kann nicht unterstellt werden
Im konkreten Fall ging es um einen 1982 geborenen Mann aus Sri Lanka, der hier geduldet wird und seit 2014 in einer Gemeinschaftsunterkunft in der Nähe von Düsseldorf lebt. Er teilt sich das Zimmer mit einem Mann aus Guinea, den er vorher nicht kannte. Insgesamt leben in seiner Wohneinheit sechs Personen in drei Zimmern. Küche und Bad nutzen alle gemeinsam. Der Mann habe sich mit seinen Mitbewohnern nicht verständigen können, habe nicht mit ihnen gekocht, erklärt seine Anwältin Eva Steffen. Daher sei es unzulässig, die Zahlung um zehn Prozent zu kürzen.
Alle Organisationen, die das Bundesverfassungsgericht daraufhin befragt hatte, von Amnesty bis zum UN-Flüchtlingshilfswerk, sehen das ebenfalls so: Gemeinsames Wirtschaften zu unterstellen, sei nicht in Ordnung.
Das Karlsruher Gericht schließt sich dem nun an und verweist auf frühere Urteile zum Existenzminimum. Der Gesetzgeber habe zwar einen Spielraum bei der Beurteilung, und das Verfassungsgericht würde diesen auch nur zurückhaltend kontrollieren. Aber die Berechnungen müssten schlüssig sein und realistisch. Bei den Bewohnern von Flüchtlingsheimen könne man nicht davon ausgehen, dass sie typischerweise mit anderen zusammen wirtschaften und daher Geld sparen. Der Gesetzgeber habe das nicht untersucht, sondern unterstelle das einfach.
Gesellschaft für Freiheitsrechte hatte Verfahren angestoßen
Laut Verfassungsgericht bekommen nun alle Betroffenen, deren Bescheide für diese Zeit noch nicht bestandskräftig sind, rückwirkend ab September 2019 mehr Geld. Das ist dann der Fall, wenn jemand Widerspruch eingelegt oder geklagt hat. In allen anderen Fällen ist die Entscheidung für die künftigen Leistungen zu berücksichtigen.
Das Verfahren angestoßen hatte die Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF). Um die Regelung in Karlsruhe überprüfen zu lassen, hatte sie eine Mustervorlage erarbeitet, von der hier eine Richterin am Sozialgericht Düsseldorf Gebrauch gemacht hatte. Dort klagte der Mann aus Sri Lanka auf höhere Leistungen für mehrere Monate in den Jahren 2019 und 2020. Aktuell bekommen Menschen in einer Sammelunterkunft 330 Euro im Monat. Anderen alleinstehenden Asylbewerbern stehen 367 Euro zu.
Az. 1 BvL 3/21