Streifzug durch die Ideengeschichte Die Vision der elektronischen Demokratie
Vom Hippie-Hacker in Kalifornien bis zum deutschen Systemforscher: Nicht erst seit dem Siegeszug des WWW hat die technische Revolution Visionäre zu Zukunftsszenarien inspiriert. Wie wird neue Technik demokratische Systeme beeinflussen? Die Forschergemeinschaft ist gespalten - ein Überblick.
Von Ariane Peters und Torben Börgers, für tagesschau.de
Politikwissenschaftler und Technikphilosophen haben in der elektronischen Demokratie immer mehr gesehen als die Fortführung etablierter Verfahren repräsentativer Demokratien mit neuen Mitteln. Optimisten erhoffen sich von der millionenfachen Vernetzung Großes: Das Internet soll den Willensbildungsprozess moderner Gesellschaften perfektionieren. Wie in der idealtypischen Dorfgemeinschaft von Aristoteles soll jeder Bürger nach seiner Meinung gefragt werden. Wahlen werden einfacher, dringende Entscheidungen liegen nur noch einen Mausklick entfernt. Willy Brandts Forderung "mehr Demokratie wagen“ scheint plötzlich umsetzbar.
Skeptiker warnen dagegen vor übereilter Aufbruchstimmung. Extremistische und staatsfeindliche Ideen radikaler Parteien könnten sich über das schwer kontrollierbare Internet schneller verbreiten. Gleichzeitig drohe der Gesellschaft eine digitale Spaltung: Technisch besser ausgerüstete Internetnutzer könnten die Informationsplattform dominieren und Online-Neulinge in die Informationsperipherie drängen.
"Demokratie braucht Technik"
Die ersten Visionen zur Verzahnung von Demokratie und Technik am Ende der 60er Jahre waren beseelt vom nahezu kritiklosen Glauben an den pragmatischen Fortschritt. Der Informationswissenschaftler Karl Steinbuch war von der Möglichkeit überzeugt, mit Hilfe von High-Tech-Computern den Menschen zum moralischen Fortschritt zwingen zu können. Die Rechner würden mit Werten wie Freiheit oder Gerechtigkeit gespeist und Politiker durch Software ersetzt: „Im Zeitalter der superintelligenten Computer ist es keine politische Aufgabe mehr, bei Kenntnis der Umweltsituation die im Sinne eines gegebenen Wertesystems optimale Entscheidung zu ermitteln.“
Helmut Krauch, Professor für System-Design in Kassel, sah Deutschland 1972 bereits auf dem Weg in eine "Computerdemokratie“. Die neue Technik sollte die Teilnahme am politischen Geschehen vereinfachen und dadurch die Politikverdrossenheit großer Bevölkerungsteile überwinden. Seine Idee: In Funk und Fernsehen werden strittige Themen diskutiert, der Zuschauer entscheidet per Computer mit. Krauch war überzeugt: "Demokratie braucht Technik.“
Anfang der 80er Jahre beschrieben die Berliner Informationswissenschaftler Gerhard Vowe und Gernot Wersig die flächendeckende Verbreitung leistungsstarker Informationsspeicher als Übergang zur „Kabel-Demokratie“. In den Anfangszeiten demokratischer Systeme reisten Politiker quer durchs Land, um mit Wählern ins Gespräch kommen zu können. Später übernahmen Verteilmedien wie Bücher oder Zeitungen die Beschaffung und Streuung von Informationen. Jetzt sollte das Kabel die Kommunikation revolutionieren.
Internet sorgt für neue Visionen
Moderne Zukunftsentwürfe sehen in der elektronischen Demokratie ein Instrument zur Legitimitätssicherung. Durch mehr Information und intensivere Diskussion mobilisiert das weltweite Internet den politischen Bürger. Die Mitgestaltung gesellschaftlicher Umbrüche wird wieder möglich.
Diese Ideen kamen zuerst in den USA auf, wo Computerindustrie und Internet entstanden waren. Kalifornische Theoretiker wie Howard Rheingold erklärten das Internet Mitte der 90er Jahre zum „idealen Ort menschlicher Gemeinschaft“, der in Anlehnung an die Aufklärung „herrschaftsfreie“ Kommunikation zwischen Einzelpersonen und Gruppen ermöglicht. Auch Nicholas Negroponte und Esther Dyson gewaltige Veränderungen kommen. Andere erwarteten statt einer solchen Cyber-Demokratie eher eine elektronische Demokratisierung der bestehenden politischen Strukturen. Bald entstanden die ersten Versuche elektronischer Bürgernetze auf lokaler Ebene. Laut einer Studie im Auftrag des amerikanischen Repräsentantenhauses hat das Internet bereits während der Wahlen zum US-Parlament 1996 "einen wichtigen Einfluss auf die Politik“ gehabt.
Die digitale Revolution wird jedoch auf sich warten lassen: Funktionierende Demokratien sind abhängig von den Chancen und dem Willen ihrer Bürger, selbst politisch aktiv zu werden. Solange nicht alle Wahlberechtigten über einen gleichwertigen Zugang zu Informationen und Schulung im Umgang mit dem Internet verfügen, bleibt die elektronische Demokratie mehr Vision als Realität.