Stephan Weil, Julia Willie Hamburg, Anne Kura und Grant Hendrik Tonne präsentieren den Kolaitionsvertrag
Analyse

Rot-Grün in Niedersachsen Handschrift des Kompromisses

Stand: 01.11.2022 20:01 Uhr

23 Tage nach der Wahl haben SPD und Grüne in Niedersachsen ihren Koalitionsvertrag vorgelegt. Im Fokus: Investitionen, Bildungspolitik und Beständigkeit. Viele Punkte bleiben vage - die Parteien wollen ins Handeln kommen.

Eine Analyse von Mandy Sarti, NDR

Wer von Stephan Weil (SPD) große Überraschungen erwartet, wird schnell enttäuscht. Der 63-jährige designierte Ministerpräsident versteht sich vielmehr als Mann der Beständigkeit, als Garant der Sicherheit. Kein Wunder also, dass der rot-grüne Koalitionsvertrag den Titel "Sicher in Zeiten des Wandels" trägt.

Nach gerade einmal fünf Verhandlungstagen haben SPD und Grüne das Papier in Hannover vorgestellt - zwei Tage früher als ursprünglich geplant. In der Phase der Krise geht es den beiden Parteien vor allem um zwei Dinge: zügig eine Regierung bilden, möglichst schnell handlungsfähig sein. Immerhin ist schon am 8. November die konstituierende Sitzung des Landtags.

Grüne so stark vertreten wie nie

Statt Konflikten gibt es deshalb Kompromisse - und das gilt auch für die Ministerien. Während die Grünen mit vier von zehn Ministerien zwar so stark in der Landesregierung vertreten sind wie noch nie zuvor in Niedersachsen, mussten sie aber auch Verluste verschmerzen. Der designierten Vize-Ministerpräsidentin Julia Willie Hamburg (Grüne) ist es nicht gelungen, das avisierte Wirtschaftsressort für sich zu gewinnen. Stattdessen übernimmt sie das Kultusministerium.

Damit nimmt die 36-Jährige auf dem Schleudersitz Platz. Zwar hat sie sich über Jahre als Bildungsexpertin der Grünen im Landtag profiliert, gleichzeitig steht schon jetzt fest: Lehrkräftemangel, Unterrichtsausfälle und der fehlende Fortschritt der Digitalisierung lassen sich kaum in fünf Jahren bekämpfen. Mit dem Bildungsressort kann sie in diesen Zeiten nur schwer etwas gewinnen. Dennoch kommt ihr zugute, dass die Grünen auch den neuen Finanzminister stellen werden. Hamburg kann also auf eine offenere Hand hoffen.

Soforthilfen über Nachtragshaushalt

Dass die künftige rot-grüne Landesregierung einen Schwerpunkt auf Investitionen setzt, zeigt sich auch an den Koalitionsvereinbarungen: Grund-, Haupt- und Realschullehrkräfte sollen in Niedersachsen künftig nach A13 bezahlt werden. Kostenpunkt: Zwischen 220 und 300 Millionen Euro jährlich. Daneben sollen die Schulen mit dem Geld aus nichtbesetzten Stellen zumindest anderes Personal einstellen können.

Auch sonst planen SPD und Grüne, tief in die Tasche zu greifen: Mithilfe eines Nachtragshaushalts wollen sie Soforthilfen in Höhe von einer Milliarde Euro auf den Weg bringen, um die sozialen und wirtschaftlichen Folgen der Energiekrise abzufedern. Eine Landeswohnungsbaugesellschaft soll mehr sozialen Wohnraum schaffen, ein 29-Euro-Ticket jungen Menschen die Bahnfahrt vergünstigen.

Der Schuldenbremse entkommen

Daneben will Rot-Grün einen Niedersachsenfonds einrichten - ein Mittel, um der in die niedersächsische Verfassung verankerten Schuldenbremse ein wenig zu entkommen. "Wir kennen den rechtlichen Rahmen. Wir wissen aber auch, dass die Schuldenbremse durchaus die Möglichkeit zu Alternativen bietet, und diese Möglichkeiten wollen wir nutzen", sagte Weil.

Das Investitionsversprechen gilt auch für den Klimaschutz. Niedersachsen will erneuerbare Energien ausbauen und setzt sich ambitionierte Ziele: Bis 2030 sollen die Emissionen um 75 Prozent gesenkt werden. 2040 will Niedersachsen komplett klimaneutral sein. Das Umweltministerium wird deshalb auch zum Klimaschutzministerium. Alle Vorhaben der neuen Landesregierung sollen einem Klimacheck unterzogen werden.

Bundespolitische Themen ausgespart

Der Koalitionsvertrag benennt einige Eckpfeiler, bleibt an einigen Punkten aber eben auch eines: vage. Viele Pläne werden angerissen, aber nicht mit konkreten Maßnahmen hinterlegt. Das hat vermutlich pragmatische Gründe: Niedersachsen steht zwar vor einem großen Wandlungsprozess, gleichzeitig beanspruchen die verschiedenen Krisen eben auch viel zusätzliches Geld. Der Koalitionsvertrag trägt deswegen auch die Handschrift des Kompromisses.

Dass die Parteien der Vereinbarung auf den Parteitagen am kommenden Wochenende zustimmen werden, dürfte nur noch reine Formsache sein. Denn Reibungspunkte gibt es keine: Das lässt sich auch daran erkennen, dass bundespolitische Themen wie das Atomkraftwerk Emsland oder der Ausbau der Autobahnen weitgehend ausgespart wurden. Statt Identitätsdebatten zu führen, geht es beiden Parteien darum, ins Handeln zu kommen.

Und damit will die designierte Landesregierung so schnell wie möglich beginnen: Noch im November soll der neue Landtag das Rettungspaket für die Menschen in Niedersachsen beschließen.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete NDR Info am 01. November 2022 um 19:30 Uhr.