Staatssekretärin Güler zu Özil "Debatte wirft uns um Jahre zurück"
Die Debatte um Mesut Özil sendet ein fatales Signal an Migranten in Deutschland, sagt NRW-Staatssekretärin Güler im Interview mit tagesschau.de: 'Wie sehr du dich auch anstrengst, du wirst nie einer von uns.'
tagesschau.de: Nach Mesut Özils Rücktritt schlägt die Debatte über ihn, das Erdogan-Foto und seinen Umgang damit weiterhin hohe Wellen. Was macht diese Debatte mit Deutschtürken und anderen Migranten, die hier leben und sich integrieren?
Serap Güler: Aus integrationspolitischer Sicht ist die Debatte fatal, weil bei vielen jungen Menschen mit Migrationsgeschichte das Gefühl bestätigt wird: Du kannst dich anstrengen, wie du willst, kannst es sogar bis zur Nationalmannschaft schaffen, und dann machst du mal einen Fehler und wirst gleich niedergemacht. Die Deutschtürken bekommen den Eindruck, dass mit zweierlei Maß gemessen wird.
Serap Güler wurde 1980 in Marl geboren und wuchs als Kind türkischer Einwanderer auf. Die CDU-Politikerin ist seit Juni 2017 Staatssekretärin für Integration im Ministerium für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration des Landes Nordrhein-Westfalen.
tagesschau.de: Inwiefern zweierlei Maß?
Güler: Özil erwähnt in seiner Erklärung ja das Foto, das Lothar Matthäus mit Wladimir Putin gemacht hat. Da hat keiner eine Erklärung gefordert, wieso er sich mit einem Despoten fotografieren lassen kann. Es gab zwar etwas Kritik, aber die war bald abgeklungen. Das sind Unterschiede, die die Deutschtürken hier sehr bewusst wahrnehmen.
Ich sage ganz klar: Erdogan ist kein Demokrat, und dieses Foto bleibt ein Fehler, auch nach Özils Erklärung. Der erste Teil seiner Erklärung überzeugt mich auch nicht. Natürlich kann man der Heimat seiner Eltern verbunden sein, und es hat dennoch nichts mit Respektlosigkeit zu tun, wenn man die Einladung eines Autokraten ausschlägt.
Aber viele junge Menschen, gerade türkischer Abstammung, haben das Gefühl, dass es vor allem um ein Türkeibashing geht. Was in anderen Ländern wie etwa Russland oder Polen passiert, ist auch nicht alles richtig, aber darüber - so ihr Gefühl - spricht niemand so laut wie über die Türkei.
"Die Kritik an ihm ist aus dem Ruder gelaufen"
tagesschau.de: Andererseits ließ die Kritik an Ilkay Gündogan, der ja ebenfalls auf dem Foto mit Erdogan war, recht bald nach, weil er sich frühzeitig erklärt hat. Allein mit der Nationalität lässt sich das also nicht erklären, oder?
Güler: Es stimmt, Gündogan hat das schnell aus der Welt geräumt, indem er sich erklärt hat. Aber ob man auf diesem Schweigen von Özil wirklich so lang und so stark herumreiten musste, diese Frage stellt sich mir schon. Man kann Özil durchaus den Vorwurf machen, dass das Foto ein Fehler war und dass er an dieser Stelle auch Selbstkritik vermissen lässt. Aber die die Kritik ist völlig aus dem Ruder gelaufen.
tagesschau.de: Wenn man bedenkt wie noch vor vier Jahren die Nationalmannschaft als Helden gefeiert wurden - mit all ihrer Vielfalt. Sind wir komplett dahinter zurückgeworfen?
Güler: Komplett zurückgeworfen sind wir nicht. Wir sehen ja auch, wie viele sich jetzt solidarisch mit Özil zeigen. Aber ein Rückschlag ist es schon. Man hat wirklich das Gefühl: Eine bunte Mannschaft ist ganz viel wert, wenn sie einen Pokal nach Hause bringt. Aber wenn sie aus der Vorrunde ausscheidet, dann entlädt sich Kritik - die hatte sich in den vergangenen Wochen vor allem auf eine Person konzentriert und die hieß Mesut Özil.
"Du bist nur so lange gut, wie du Leistung bringst"
tagesschau.de: Also teilen Sie Özils Satz: "Ich bin Deutscher, wenn wir gewinnen, und ein Immigrant, wenn wir verlieren"?
Güler: So wie diese Debatte in den letzten Wochen geführt wurde, wird dieser Satz durch die Debatte selbst bestätigt. Viele junge Menschen mit Migrationsgeschichte werden jetzt das Gefühl haben, du bist nur so lange akzeptiert, solange du Leistung bringst. Dieses Gefühl wurde in den letzten Jahren immer wieder bestärkt beispielsweise durch Debatten, ob der Islam zu Deutschland gehört oder nicht. Viele Migrantinnen und Migranten sagen jetzt: Mesut spricht uns aus der Seele, denn wir machen diese Erfahrungen tagtäglich - und jetzt hat es sogar einen Nationalspieler erwischt.'
Andererseits: Dieses Gefühl der Ausgrenzung, muss nicht immer bedeuten, dass man tatsächlich ausgegrenzt wird. Es gibt auch Menschen, die es sich ein bisschen zu einfach machen, indem sie sich in eine Opferrolle begeben. Auch das gehört zur Wahrheit. Nur fühlen sich eben diejenigen, die diese Opferrolle bedienen jetzt bestätigt, und das ist das Fatale an der Diskussion.
tagesschau.de: Ist das eine rassistische Debatte?
Güler: Sie hat rassistische Tendenzen. Manche Meinungsäußerungen waren Rassismus in Reinform, und das muss man auch ganz offen so benennen. Der wirkliche Rassismus hat sich vor allem in den sozialen Medien abgespielt.
"Wir waren schon mal weiter"
tagesschau.de: Zeigt diese Debatte, dass wir bei der Integration beziehungsweise beim Blick der Mehrheitsgesellschaft auf Migranten in Deutschland keine Fortschritte, sondern Rückschritte machen?
Güler: Ich habe in der Tat das Gefühl, dass wir schon mal weiter waren. Dass wir schon mal eine Zeit hatten, die ist gar nicht so lange her, in der wir stolz auf unsere Vielfalt waren. Diese Vielfalt wird zunehmend von vielen als Belastung und Risiko empfunden..
tagesschau.de: Woran machen Sie das fest?
Güler: Auch wenn das schon fast zehn Jahre zurückliegt, ich glaube, dass Thilo Sarrazin mit seinen Thesen viel dazu beigetragen hat, dass viele Menschen skeptischer auf Migranten blicken.
Hinzu kommt bei den Türkeistämmigen, dass es eine extreme Umarmungspolitik von der türkischen Seite gibt, vom Staatspräsidenten selbst, aber auch von der gesamten Regierung. Sie versuchen, den Menschen hier das Gefühl zu geben, die Deutschen wollen euch nicht, aber für uns seid ihr immer unsere Staatsbürger und wir stehen an eurer Seite. Dieses Gefühl hat sich bei den Menschen etabliert: 'Man will uns hier nicht, also müssen wir uns auch gar nicht anpassen'. Das wirft uns um Jahre zurück.
"Blick in die Gelben Seiten zeigt Erfolge der Integration"
tagesschau.de: Welche Erfolge gibt es denn in der Integration?
Güler: Wir haben wirklich viele Positivbeispiele, auch wenn wir in der Politik und Öffentlichkeit meist die Negativbeispiele diskutieren. Ich sage immer, ein Blick in die gelben Seiten sollte verdeutlichen, wie gut wir in der Integration sind. Sie finden in so vielen Branchen Menschen mit Migrationsgeschichte, die sich hier ein Unternehmen aufgebaut haben, die Arbeitgeber sind. Ich bin nach wie vor der Meinung, dass die Integration - was den Alltag betrifft - eher gelungen als gescheitert ist.
Nehmen Sie allein die Universitäten, vor 20 oder 30 Jahren gab es noch lange nicht so viele Menschen mit Migrationsgeschichte an den Unis, insofern haben wir wirklich viele Fortschritte gemacht, aber die fallen weniger auf als die Rückschritte, die wir leider auch hinnehmen müssen.
Das Interview führte Sandra Stalinski, tagesschau.de