Urwahl über OB-Kandidaten Wie die Grünen Palmer loswerden wollen
Weitsichtiger Politprofi oder kleingeistiger Populist? Die Meinungen über den Grünen-Politiker Palmer gehen weit auseinander. Nun hat aber offenbar auch sein eigener Stadtverband genug.
Das aufmüpfig Eigensinnige liegt wohl in den Genen. Boris Palmers Vater Helmut nannten die Zeitgenossen "Remstal-Rebell". Der gelernte Obstbauer kämpfte sein Leben lang gegen Behördenwillkür und Vorschriften, die er für unnötig hielt - gerne auch mal beleidigend oder gar handgreiflich. Dafür saß er wiederholt im Gefängnis. Rekordverdächtig oft kandidierte er bei Bürgermeisterwahlen. Fast 300 Mal trat er an. Gewonnen hat er nie.
Nonkonformist ist auch der Sohn, aber kommunalpolitisch deutlich erfolgreicher. Schon mit 34 Jahren wurde Boris Palmer Oberbürgermeister in Tübingen. Seit 15 Jahren steht er der 90.000-Einwohner-Stadt vor, in zweiter Amtszeit. Doch die könnte seine letzte sein, denn trotz aller Verdienste um die Stadt ist er selbst in der eigenen Partei äußerst umstritten. Immer wieder provozierte er mit Äußerungen in sozialen Netzwerken, die ihm teilweise als ausländerfeindlich oder rassistisch auslegt wurden.
Vertritt Palmer noch grüne Positionen?
Der Stadtverband der Tübinger Grünen will jetzt eine Urwahl beschließen. Die 461 Mitglieder sollen darüber entscheiden, wen die Grünen bei der OB-Wahl im Herbst ins Rennen schicken wollen. Manches spricht dafür, dass es nicht Boris Palmer sein wird. Eine "sehr lange Reihe von Überschreitungen" hätten bei vielen Parteimitgliedern den Eindruck erweckt, dass Palmer keine grünen Positionen mehr vertrete, sagt der Sprecher des Stadtverbandes, Marc Mausch. Keine leichte Entscheidung, denn die Parteimitglieder wissen um die kommunalpolitischen Verdienste Palmers.
Zunächst deshalb ein Blick auf die Habenseite. Palmer galt bei den Grünen schnell als politisches Talent. Schon mit 29 Jahren wurde er Abgeordneter im baden-württembergischen Landtag. Mit 32 bewarb er sich fürs Amt des Stuttgarter Oberbürgermeisters. Vergeblich, aber schon drei Jahre später setzte er sich in Tübingen klar gegen die Amtsinhaberin durch.
Ehrgeizige Klimaschutzziele
Palmer machte die Universitätsstadt zur ökologischen Vorzeige-Gemeinde. Mit dem Klimaschutzprojekt "Tübingen macht blau" wurden die CO2-Emissionen pro Kopf innerhalb von 15 Jahren um mehr als 40 Prozent reduziert, bis 2030 will die Stadt klimaneutral sein. Palmer ließ Schulen sanieren, das Bus- und Fahrradwege-Netz ausbauen, senkte die Verschuldung der Stadt, verdoppelte die Gewerbesteuer-Einnahmen. Und er beteiligte die Einwohner mit einer "BürgerApp" an politischen Entscheidungen. Als Dienstfahrzeug nutzt er ein E-Bike.
Palmer ist ein Machertyp, der gerne voranschreitet. Beispielhaft war das Tübinger Modell "Öffnen mit Sicherheit". Danach durften in diesem Frühjahr Geschäfte und Gastronomie geöffnet bleiben, weil sich die Kunden im Gegenzug testen lassen mussten. Durch die flächendeckenden Tests konnten Covid-19-Infektionen schnell erkannt und die Ausbreitung der Krankheit verringert werden.
Verzückt in die eigene Strahlkraft
Ein grüner Vorzeige-Bürgermeister also? Nach Auffassung vieler Parteifreunde einer, der häufig glänzt, der sich aber auch gerne verzücken lässt von der eigenen Strahlkraft. Und der verbal häufig Grenzen überschreitet.
Ein Sorry für die Wortwahl
Das lenkt den Blick auf Palmers Soll-Seite. 2015, in der Hochphase der Flüchtlingsbewegung nach Deutschland, forderte er, die EU-Außengrenzen zu schließen, notfalls bewaffnet. Nach Kritik aus der eigenen Partei entschuldigte er sich für die Wortwahl, blieb inhaltlich aber bei seiner Aussage. 2018 distanzierten sich die Tübinger Grünen von ihrer Ansicht nach rassistischen Äußerungen des Oberbürgermeisters über einen dunkelhäutigen Radfahrer und warnten ihn vor einer Spaltung der Gesellschaft. Auch hier entschuldigte Palmer sich später.
Ein Jahr später erregte er sich öffentlich über eine Werbeaktion der Deutschen Bahn, in der mehrere Menschen mit Migrationshintergrund dargestellt waren und fragte, welche Gesellschaft das abbilden solle. Ein Bahnsprecher reagierte mit den Worten: "Herr Palmer hat offenbar zum wiederholten Male Probleme mit einer offenen und bunten Gesellschaft."
Ein solches Verhalten sei "Ausdruck der Überzeugung von sich, seinem missionarischen Impetus", meint Rezzo Schlauch, langjähriger Fraktionsvorsitzender der Grünen im Bundestag. "Er genießt die Öffentlichkeit und sucht sie auch."
Bundespartei will Parteiausschluss
Durch diese Tendenz zur Selbstprofilierung um jeden Preis verlor Palmer bei den Grünen immer mehr an Rückhalt. Die Bundespartei hat Anfang des Jahres ein Parteiausschlussverfahren in Gang gesetzt, um das es allerdings in den vergangenen Monaten ruhig wurde. Rezzo Schlauch, der Palmer in dem Verfahren anwaltlich vertritt, vermutet wahltaktische Gründe. Die Grünen hätten die öffentliche Diskussion um einen Ausschluss Palmers vor der Bundestagswahl gescheut.
Unabhängiger Kandidat?
Viel akuter ist für Palmer die Gefahr auf kommunalpolitischer Ebene. Der Stadtverband setzt auf eine Urwahl, um die dritte Amtszeit Palmers als Oberbürgermeister zu verhindern. Und Palmer? Der könnte bei einer Niederlage in der Urwahl als unabhängiger Kandidat antreten. Palmer gegen Grün, Ausgang ungewiss. Denn, so sagt es Rezzo Schlauch: "Palmer polarisiert eher innerhalb der Grünen als in der Gesellschaft."