Berlin Ehrenamtliche Begleitung von Geflüchteten: "Es ist wichtig, dass man lernt: Da ist jemand, der will mir nichts Böses"
Der Berliner Verein "Xenion" verbindet in seinem Mentor:innenprogramm seit nun 20 Jahren Ehrenamtliche mit Geflüchteten. Die Psychotherapeution Janina Meyeringh vom Leitungsteam erzählt im Interview, wie diese Kontakte helfen, Traumata zu überwinden.
rbb: Frau Meyeringh, wie ist die Stimmung bei Xenion? Empfinden Sie Stolz, weil es seit 20 Jahren das Mentor:innen-Programm gibt, oder eher Besorgnis angesichts der politischen Situation der Debatten über Abschiebungen und Schließen der Grenzen für Geflüchtete?
Janina Meyeringh: Tatsächlich beides. Ich glaube, zu feiern ist, dass es durch diese Arbeit mit Ehrenamtlichen geschafft wurde, in den letzten 20 Jahren ganz viele Verbindungen zwischen Menschen herzustellen, die unterschiedliche Hintergründe haben - die Menschen mit Flucht und ohne Fluchthintergrund. Das ist immer noch etwas Besonderes, dass wir diese sozialen Unterstützungsstrukturen bei uns im Zentrum haben.
Wie viele haben mitgemacht in diesen 20 Jahren?
Fast um die 1.000 Mentor:innen und um die 1.500 "Mentees", so nennen wir die Menschen, die quasi in das Vergnügen einer ehrenamtlichen Begleitung kommen. Das ist schon eine große Zahl.
Wie funktioniert dieses Programm?
Bei uns melden sich Ehrenamtliche, die Lust haben, Menschen zu begleiten. Dann sprechen unsere Kolleg:innen mit ihnen, gucken, was haben sie für Wünsche, was können sie einbringen, was sind ihre Möglichkeiten, wo gibt es Stärken? Gleichermaßen finden diese Gespräche mit Menschen statt, die sich eine ehrenamtliche Unterstützung wünschen. Dann "matchen" die Kolleginnen quasi einen Ehrenamtlichen mit einem Mentee und dann finden in der Regel im ersten Jahr wöchentliche Termine zwischen den beiden statt.
Wenn jetzt Fragen auftauchen, wenn man an seine Grenzen stößt, wenn es zum Beispiel bürokratische Hürden gibt, wo der Ehrenamtlich gerne unterstützen möchte, aber auch nicht weiß, wie, dann stehen unsere hauptamtlichen Kolleg:innen im Hintergrund. Wir haben Schulungen für Themengebiete, die von Interesse sind, regelmäßige Reflexionsrunden, wo man sich auch mit anderen austauschen kann. Es gibt ein Unterstützungsprogramm, was man annehmen kann, aber auch nicht muss.
Wie lange dauert in der Regel so ein Verhältnis im Programm?
Erstmal ein Jahr. Aber die Erfahrung zeigt, dass die meisten Menschen verbunden bleiben. Manchmal bilden sich vielleicht sogar Freundschaften, aber manchmal verliert man sich dann auch aus den Augen. Aber ich glaube, was alle mitnehmen, ist diese Bereicherung auf beiden Seiten jemand anderes kennenzulernen, eine andere Sichtweise kennenzulernen.
Aus welchen Ländern kommen die meisten der betreuten Geflüchteten?
Aktuell sind es vor allen Dingen Menschen aus Afghanistan, aus Syrien. Wir haben viele kurdische Menschen aus der Türkei, wir haben aber auch Menschen aus Tschetschenien, aus dem Iran, Irak, aus afrikanischen Ländern. Das ist sehr bunt gefächert.
Wie gestalten denn die meisten diese Tandems oder Mentor:innenschaften?
Es gibt unterschiedliche Erwartungen, auch jeder Mensch ist unterschiedlich. Das ist auch das Schöne an dem Programm. Es kann sein, dass sich Menschen einfach nur einen Kontakt wünschen, jemanden, der Ihnen beim Ankommen in Berlin hilft, mit ihnen vielleicht die Stadt erkundet, Deutsch sprechen übt. Es kann aber auch sein, dass jemand Unterstützung in Bezug auf Ausbildung, Beruf braucht und konkret jemand gesucht wird, der da unterstützen kann.
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Viele der Geflüchteten, die zu Xenion kommen und dann vielleicht Mentees werden, sind traumatisiert. Was können ehrenamtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter da bewirken? Sie haben nicht die entsprechende Ausbildung.
Ja, aber sie können dennoch viel bewirken. Die Menschen, die zu uns kommen, haben in der Regel schwere Menschenrechtsverletzungen erlebt: in irgendeiner Form von Menschenhand gemachte Gewalt. Das führt natürlich dazu, dass das Vertrauen in Menschen sinkt, dass es auch eine Art korrigierende Beziehungserfahrung braucht. Man kann sich nicht vorstellen, wie wichtig es ist, dass man einfach lernt, da ist jemand, der will mir nichts Böses. Jemand, der mich unterstützt, Spaß mit mir hat, all das sind Erfahrungen, die gerade für Menschen, die Traumatisches erlebt haben, von immenser Bedeutung sind.
Wir merken, dass sich seit etwa eineinhalb Jahren, mit zunehmenden Verschärfungen in der Migrationsdebatte, Menschen wieder vermehrt bei uns melden und sagen: Wir möchten irgendwie was tun, wir möchten dem was entgegensetzen.
Xenion bietet seit 1986 psychotherapeutische Hilfe für traumatisierte Geflüchtete und Folteropfer an. Es gibt professionelle soziale Beratung, Betreuung. Was war da vor 20 Jahren die Motivation für das ehrenamtliche Mentor:innenprogramm?
Die Motivation war tatsächlich der Gründer von Xenion, Dietrich Koch. Er hat in den Niederlanden ein ähnliches Projekt kennengelernt. Er hat aber auch sehr schnell gemerkt, dass ehrenamtliches Engagement auch eine hauptamtliche Unterstützung im Hintergrund braucht. Ein Mann, der schwer traumatisiert war, sagte, dass diese Therapie ein Stück weit die Batterie war, die ihn immer wieder aufgeladen hat. Aber was ihn eigentlich geheilt hat, war das soziale Netz und das Drumherum, und ich glaube, dass das eine ohne das andere nicht geht oder aber deutlich schlechter geht.
Sie sind selbst Psychotherapeutin, schwerpunktmäßig für Kinder und Jugendliche. Was für Traumata, was für Erlebnisse hören Sie da?
Es gibt eine massive Zunahme an Menschenrechtsverletzungen nicht nur im Herkunftsland, sondern auch auf der Flucht. Die Menschen, die kommen, vor allen Dingen auch Kinder und Jugendliche, haben von Folter über schwerste Misshandlungen erlebt. Das führt zu einer grundlegenden Erschütterung des Vertrauens in andere Menschen. Das ist noch dramatischer, wenn es auch Menschen vollführen die eigentlich dafür stehen sollten, das Recht zu verteidigen. Kinder sagen, an den Grenzen haben mich Polizisten geschlagen, das dürfen die doch nicht.
Hinzu kommt, dass durch die Verschärfung der Debatte die Aufnahmebedingungen immer schwieriger werden. Diese Post-Migrations-Stressoren, sagen wir da als Fachbegriff zu all dem, was die Menschen im Alltag noch zusätzlich belastet, werden immer mehr. Gleichzeitig merken wir, dass sich seit etwa eineinhalb Jahren, mit zunehmenden Verschärfungen in der Migrationsdebatte, Menschen wieder vermehrt bei uns melden und sagen: Wir möchten irgendwie was tun, wir möchten dem was entgegensetzen. Das ist natürlich unheimlich schön, und ich glaube, es ist auch der beste Ort, um das zu tun.
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Was bedeutet diese Debatte, diese aktuelle politische Situation für die Geflüchteten?
Gerade für Menschen, die traumatische Erlebnisse erlebt haben, ist dieses Gefühl von Sicherheit ganz entscheidend, um auch genesen zu können, ankommen zu können. Natürlich führt diese Debatte wieder dazu, dass das Sicherheitsgefühl angegriffen wird, es führt zu Ängsten. Es führt aber auch dazu, dass viele Menschen sich vorverurteilt fühlen, sich fragen, wieso werden alle in einen Topf geworfen, wieso guckt man nicht genauer hin?
Xenion hat mit seinen Programmen vielen geholfen. Trotzdem ist es eigentlich nur ein Tropfen auf den heißen Stein, muss man sagen. Was wünscht Sie sich für das Mentor:innenprogramm zum zwanzigjährigen Bestehen für die nächsten Jahre?
Wir haben bei Xenion immer wieder die Situation, dass wir nicht wissen, wie kriegen wir unsere Arbeit finanziert, wie geht es im nächsten Jahr weiter. Gerade für Mentor:innen im Programm hat sich das in den letzten Jahren sehr drastisch verschärft, dass wir aus Landesmitteln rausgefallen sind, dass es schwieriger ist, zu erklären, warum ist diese Arbeit so wichtig. Sie wird nicht als Säule anerkannt und das finde ich gerade für meine Kolleg:innen, die diese Arbeit machen, aber auch für jeden Ehrenamtlichen eine fehlende Wertschätzung.
Ich glaube, dass es wichtig wäre, das als wichtige Säule zu akzeptieren, auch gerade in Bezug auf die Stärkung unseres gesellschaftlichen Zusammenhalts, die wir mehr denn je gerade brauchen. Da ist mein Appell auch immer wieder an die Politik: Dass auch Ehrenamt eine Unterstützungsstruktur braucht und diese auch nachhaltig zu finanzieren, das würde ich mir wirklich wünschen für das Programm.
Vielen Dank für das Gespräch.
Das Interview mit Janina Meyeringh führte Ursula Vosshenrich für rbb24 Inforadio. Der Text ist eine redigierte und gekürzte Fassung. Das komplette Gespräch können Sie oben im Audio-Player nachhören.
Sendung: rbb24 Inforadio, 09.10.2024, 14:25 Uhr