Berlin Fragen und Antworten - Fall Pechstein auf der Zielgeraden: Erstmals geht's um Millionen
Claudia Pechstein gegen den Eislauf-Weltverband ISU: Der langwierigste Justizfall der Sportgeschichte könnte am Donnerstag enden. Pechstein hofft auf einen millionenschweren Triumph, aber nach ARD-Informationen ist die ISU kampfbereit. Von Hajo Seppelt und Jörg Mebus
Was liegt an?
Vor dem Oberlandesgericht München geht es im mittlerweile 15 Jahre währenden Rechtsstreit zwischen der fünfmaligen Eisschnelllauf-Olympiasiegerin Claudia Pechstein und dem Eislauf-Weltverband ISU zum ersten Mal konkret um die Frage nach Schadenersatz und Schmerzensgeld für Pechstein. Das erste Gericht, das im Zusammenhang mit der umstrittenen Dopingsperre (2009 bis 2011) gegen die heute 52-Jährige Berlinerin befasst war, war das ISU-Schiedsgericht im Jahr 2009.
Was fordert die Pechstein-Seite?
Geht es nach Pechsteins Rechtsanwalt Thomas Summerer, nimmt der epische Rechtsstreit mit der ISU nun ein schnelles und für seine Mandantin triumphales Ende. "Unsere Schadenersatzklage beläuft sich mittlerweile auf acht Millionen Euro, Schmerzensgeld inbegriffen. Wir erwarten vom Oberlandesgericht, dass diese Schadenersatzsumme auch zugesprochen wird", sagte Summerer der ARD-Dopingredaktion. Ein Vergleich, so der Münchner Sportrechtler, sei möglich, komme aber nur infrage, "wenn sich die ISU für ihr Fehlverhalten bei Claudia entschuldigt".
Am späten Abend des 7. Februar 2009 steht Claudia Pechstein in Nachthemd und Badelatschen in einem norwegischen Hotelzimmer. Geschockt. Eben hat sie erfahren, dass mit ihren Blutwerten etwas nicht in Ordnung sei. Noch ahnt die Berliner Eisschnellläuferin nicht, dass sich in diesem Moment ihr Leben verändern wird: Sie wird wenige Monate später wegen Dopings gesperrt. RadioEins-Moderatorin Kerstin Hermes und ARD-Dopingexperte Hajo Seppelt gehen dem spannenden Fall Claudia Pechstein auf den Grund. Unser Podcast-Tipp: "Hoyzer - Verrat am Fußball" >> https://www.ardaudiothek.de/sendung/hoyzer-verrat-am-fussball/12513513/mehr
Was sagt die ISU zur anstehenden Verhandlung?
Nichts. Auf Anfragen der ARD-Dopingredaktion reagierte die ISU nicht. Nach ARD-Informationen hat sich an der seit Jahren gültigen Sichtweise der ISU nichts geändert: Die Ausschläge in Pechsteins Blutprofil ließen sich demnach – auch gestützt auf wissenschaftliche Expertisen – nicht durch eine bei Pechstein nach der Sperre diagnostizierten, zuvor unbekannten Blutanomalie erklären. Einzige Erklärung laut ISU: Doping. Zudem sei, bestätigt durch sämtliche Sportgerichte, die Sperre nach den damaligen Regularien statthaft gewesen.
Wie argumentiert die Pechstein-Seite?
Diese ISU-Darstellung ist das Gegenteil dessen, was das Pechstein-Lager längst als gegeben ansieht. "Es wird (in München) nicht mehr um die Feststellung gehen, ob ein Dopingverstoß vorlag oder nicht. Es ist eindeutig so, dass kein Doping vorliegt", sagt Rechtsanwalt Summerer mit Blick auf weitere wissenschaftliche Expertisen, vor allem des Münchner Hämatologen Stefan Eber, der feststellt: "Die schwankenden … Retikulozytenzahlen stehen ohne Zweifel im Zusammenhang mit den nachgewiesenen erythrozytären Anomalien." Summerer sagt: "Die ISU hat es sich damals sehr leicht gemacht. Sie hat gesagt, wir können uns etwas nicht erklären, also muss es Doping sein. Das ist natürlich ein fataler Trugschluss" – der die ISU nun teuer zu stehen kommen könnte.
Ist dies einhellige Meinung unter Sportjuristen, die nicht in den Fall involviert sind?
Nein. Der Düsseldorfer Sportrechtler Paul Lambertz sagte der ARD: "Nur weil Claudia Pechstein seit Jahren behauptet, dass sie nicht gedopt habe, steht das aber noch nicht fest - jedenfalls nicht im juristischen Sinne. Die Frage, ob sie tatsächlich einen Schadensersatzanspruch hat, dem Grunde und der Höhe nach, ist noch von keinem deutschen Gericht beantwortet worden. Diese Frage müsste, wenn es dazu kommt, dass verhandelt wird, erst mal geklärt werden." Außerdem müsse Claudia Pechstein der ISU nachweisen, dass eine Pflichtverletzung bestand.
Ist ein schnelles Ende des Falles Pechstein dennoch möglich?
Ja. Beide Seiten scheinen meilenweit auseinander zu liegen, das Interesse an einer Fortsetzung des Justizmarathons mit weiteren Gutachter-Duellen über mehrere Verhandlungstage oder sogar eine weitere Gerichtsinstanz dürfte allerdings ebenso gering sein. "Ich glaube nicht, dass wir ein Urteil bekommen werden", sagt Sportrechtler Lambertz: "Ich glaube eher, dass die Parteien sich einigen werden."
Sollte es keine Einigung geben - ist das OLG München die letzte Instanz?
Ungewiss. Die Parteien könnten im Falle eines Urteils Revision vor dem Bundesgerichtshof einlegen, allerdings nur, wenn das OLG München dies zulässt. Sollte es die Revision ablehnen, könnten die Parteien Nicht-Zulassungsbeschwerde am Bundesgerichtshof einlegen. Dieser Schritt ist eher selten von Erfolg gekrönt.
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Was war nochmal der Auslöser des Rechtsstreits?
Die ISU hatte Pechstein 2009 wegen auffälliger Blutwerte (stark erhöhter Anteil junger roter Blutkörperchen, den Retikulozyten), erstmals gemessen bei der WM in Hamar/Norwegen, nur aufgrund des indirekten Dopingnachweises für zwei Jahre gesperrt. Pechstein legte Einspruch ein, scheiterte aber in sämtlichen sportrechtlichen Instanzen bis hin zum Internationalen Sportgerichtshof CAS und dem Schweizer Bundesgericht. Die Verfahrensrichtlinien zur Anwendung des indirekten wurden übrigens kurz nach dem CAS-Urteil angepasst. Nur ein auffälliger Blutparameter wie bei Pechstein reicht seitdem nicht mehr für die Verhängung einer Sperre aus, es müssen zehn (!) sein.
Worin unterscheidet sich das Gerichtsverfahren am Donnerstag von anderen?
Seit sie ihre sportrechtlichen Verfahren verloren hat und ihre Dopingsperre nicht verhindern konnte, versucht Pechstein, zivilrechtlich Schadenersatz und Schmerzensgeld von der ISU zu erhalten, vor allem für entgangene Werbe-Einnahmen und Prämien. Vor allen anderen ordentlichen Gerichten ging es im Kern neben übergreifenden sportjuristischen Sachverhalten (z.B. die Rechtskraft von Schiedsvereinbarungen oder die Rolle des Internationalen Sportgerichtshofes CAS) zunächst um die Frage, ob Pechstein vor deutschen Gerichten überhaupt einen internationalen Sportfachverband auf Schadenersatz verklagen darf. Das Bundesverfassungsgericht (BVG) entschied 2022: Ja, sie darf.
Wieso ging das Verfahren bis vor das Bundesverfassungsgericht?
Weil Pechstein nie aufgab. 2016 legte sie gegen ein Urteil des Bundesgerichtshofes (BGH), der ihr das Recht auf eine Schadenersatzklage in Deutschland absprach, Verfassungsbeschwerde ein – und hatte Erfolg. Der BGH hätte die Schiedsvereinbarung zwischen Pechstein und der ISU nicht als wirksam erachten dürfen, so das BVG. Es verwies das Verfahren zurück an das OLG München. Dort geht es nun zum ersten Mal konkret um Schadenersatz und Schmerzensgeld.
Welche Gerichte waren noch involviert?
Neben dem OLG München (2015) waren das Landgericht München (2014) und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (2018) mit dem Fall befasst. Sportrechtlich trafen sich die Parteien vor dem ISU-Schiedsgericht (2009), vor dem Internationalen Sportgerichtshof CAS (je 2009) und dem Schweizer Bundesgericht (2010). Zudem gab es ein Disziplinarverfahren bei der Bundespolizei, Pechsteins Arbeitgeber, das 2010 eingestellt wurde.
Sendung: Der Tag, 23.10.2024, 19:15 Uhr