Der Regisseur Volker Heise bei der Premiere des Dokumentarfilms «Berlin 1933 - Tagebuch einer Großstadt» in den Delphi Filmpalast. (Quelle: dpa/Jörg Carstensen)

Berlin "Ich wollte die Mischung aus hartem Bruch bei gleichzeitiger Kontinuität erzählen"

Stand: 17.11.2024 17:37 Uhr

In seinem Buch "1945" erzählt Volker Heise das Ende des Zweiten Weltkriegs aus verschiedenen Perspektiven. Entstanden ist ein Panoptikum eines großen historischen Wendepunkts - auch aus der Sicht einfacher Leute.

Mit einer Lesung feiert das neue Buch "1945" von Volker Heise am Sonntag Premiere. Die knapp 500 Seiten lesen sich etwas, als habe Heise ein Drehbuch geschrieben zu einem Dokumentarfilm über das Ende des Zweiten Weltkriegs.
 
rbb: Herr Heise, meine Mutter hat immer erzählt, wie sie im Jahr 1945 als Fünfjährige an der Hand ihrer Großmutter von Jüterbog nach Berlin zurückgelaufen ist, das hat drei Tage gedauert. Es muss eine unglaubliche Tortur gewesen sein. Sie sind Jahrgang 1961, spielen Familienerzählungen aus dieser Zeit bei Ihnen eine Rolle?

Volker Heise: Ja, klar. Das Buch ist meinen Eltern gewidmet, Ingo und Hermann Heise, die beide Kriegskinder sind. Wir haben ganz unterschiedliche Erinnerungen, die aber bei uns relativ spät erst aufgebrochen sind. Ich glaube, das geht den meisten so.
 
Die meisten haben Eltern gehabt, die nicht darüber geredet haben oder nur ansatzweise. So war das auch bei meinen Eltern. Meine Mutter hat sogar erst kurz vor ihrem Tod erzählt, was sie in der Zeit erlebt hat. Diese Kriegskinder-Generation, die die Generation meiner Eltern und der Eltern der Freunde um mich herum war, ist eine sehr besondere und sehr vom Krieg geprägte Generation. Auch wenn das gar nicht so sichtbar war und wir es nicht wussten, war es immer da.

Und es ist so, dass das Jahr 1945 ist ein Ausnahmejahr ist - die Kriegsjahre davor natürlich auch. Aber das Jahr 1945 noch einmal in anderer Form.
 
Genau, weil im Grunde genommen dreht sich da die Geschichte. Wobei man sagen muss, und ich versuche das auch in dem Buch so zu erzählen: Auf der einen Seite fragt man sich, ob es eine Befreiung oder eine Niederlage ist. Oder ist es eine Niederlage, die eine Befreiung ist, oder eine Befreiung, die auch eine Niederlage ist? Da kommt beides zusammen.
 
Es ist natürlich eine Niederlage. Zum einen eine Niederlage für das Deutsche Reich, eine Niederlage moralisch, militärisch, wirtschaftlich und sozial, auf allen Ebenen. Das ist die eine Seite. Gleichzeitig ist es die Befreiung vom Faschismus.
 
Und dann gibt es auch eine wahnsinnig starke Kontinuität. Die Leute hören schließlich nicht auf, zu sein wer sie sind oder das zu machen, was sie machen. Diese Mischung aus einem harten Bruch bei gleichzeitiger Kontinuität, die habe ich versucht in dem Buch zu erzählen.

Im Buch tauchen unterschiedliche Perspektiven auf. Da ist zum Beispiel eine 16-jährige Warenhaussekretärin. Einen Tag später wartet der Widerständler Helmut James Graf von Moltke auf seinen Prozess. Das sind so viele Dokumente, wo haben Sie da recherchiert?
 
Mich bewegt das Thema schon lange, ich sammle Tagebücher und Büchererinnerungen, ich habe mittlerweile Plastikkästen voller Bücher, die bei uns auf dem Dachboden liegen.
 
Aber Brigitte Eicke zum Beispiel ist eine einfache Person gewesen. Sie hat Steno und Schreibmaschine gelernt und deshalb hat sie dieses Tagebuch geschrieben. Im Gegensatz zu jemandem wie Joseph Goebbels, der ein Tagebuch für die Nachwelt schreibt, hat sie das nicht getan. Deshalb ist es ein so großer Schatz, dieses Tagebuch zu haben. Da schreibt jemand, dem es total egal ist, wie das auf andere wirkt, sondern sie schreibt einfach, wie ihr sozusagen die Schnauze gewachsen ist. Das ist toll, weil das so selten ist, dass man Tagebücher von Menschen hat, die keine Schriftsteller sind, keine Künstler, keine Politiker, sondern einfach jeden Tag zur Arbeit gehen. Das aus dieser Perspektive zu sehen, ist ein großes Geschenk.

Die Schöne Lesung mit Volker Heise 17.11.2024 18:00

Live aus dem Saal 3 im Haus des Rundfunksmehr Moderation: Gesa Ufer

Wie geht es Ihnen damit, wenn Sie dieses Tagebuch lesen, wo sich jemand über Unterwäsche freut. Wir wissen, dass parallel der Holocaust passiert ist. Macht Sie das wütend oder ist das einfach menschlich?
 
Es macht mich nicht wütend. Das ist ein 16-jähriges Mädchen, das im Faschismus aufgewachsen ist. Sie hat nichts anderes kennengelernt und eigentlich geht es in ihrem Tagebuch um nichts anderes: Ich bin 16, ich möchte leben, ich möchte Spaß haben, ich möchte Freunde kennenlernen, ich will die erste Liebe erleben, ich will ins Kino gehen. All das, was man mit 16 ja auch machen sollte.
 
Das will sie bloß in einer Zeit, die es ihr nicht wirklich erlaubt und dagegen kämpft sie auch an. Das finde ich großartig. Ich kann jemanden - wie sie mit 16 - überhaupt nicht verurteilen, auf keinen Fall, während Leute, die schon ein bisschen älter sind und die das mitverantwortet haben, was passiert ist, die sollte man dann schon zur Rechenschaft ziehen.

Solche Leute machen einen wirklich wütend.

Gibt es Leute, die in Ihrem Buch vorkommen, die Sie tatsächlich im Nachhinein noch wütend machen?
 
Ja, jemand wie Heinz Guderian, der den Blitzkrieg erfunden hat und sich so im Nachhinein wie so eine Art Widerstandskämpfer dargestellt hat. Das macht einen wütend. Er hat von Hitler ein eigenes Gut geschenkt bekommen für seine Tätigkeiten, das ist nur ein paar Kilometer von einer der großen Vernichtungsorte entfernt gewesen. Solche Leute machen einen wirklich wütend.
 
Und wenn man dann sieht, diese Bilder im Nürnberger Prozess, wie diese Hauptkriegsverbrecher da sitzen, einer nach dem anderen aufsteht und sagt, nicht schuldig - ja, das macht wütend, weil das sind einfach Feiglinge.

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Das ist ein Geschichtsbuch der besonderen Art. Ich glaube, was Ihnen wichtig ist, Sie möchten nicht pädagogisieren, Sie möchten den Leser, die Leserin auch selbst urteilen lassen. Sehe ich das richtig?
 
Ja, absolut. Das ist nicht die richtige Haltung, den Leuten zu sagen, was sie denken sollen, sondern ihnen Dokumente zu geben oder zu präsentieren, auf deren Grundlage sie dann denken können. So ist meine Haltung, auch beim Filmemachen.

Es gibt 1945 natürlich einzelne Daten, die herausragen aus dem Jahr: der 27. Januar, die Befreiung von Auschwitz zum Beispiel, der 30. April natürlich, der 8. Mai auch. Sie stellen allerdings keinen Tag besonders heraus, also beiläufig fast bekommt man mit, was an diesen Tagen passiert ist.
 
Für die Einzelnen spielen diese großen Daten, die wir heute sehen, gar nicht so eine große Rolle. Eine große Rolle spielt, wie überlebe ich das Ganze? Wie gehe ich jetzt mit meinem neuen Alltag oder mit meinem alten Alltag um? Das war für mich eigentlich die wesentlichere Perspektive, dass zwar die Potsdamer Konferenz stattfand, doch die meisten Berliner haben das gar nicht richtig mitbekommen. Für sie war entscheidend, wo bekommen wir Wasser und was zu essen her.

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Jeden Monat ist bei Ihnen im Buch ein Foto vorangestellt, das schon ein bisschen was über diesen Monat erzählt. Der viel zu junge Soldat ganz am Anfang des Buches zum Beispiel, Menschen auf der Flucht aus dem Osten. Wie haben Sie die ausgewählt, die Fotos?
 
Ich habe immer geguckt, was ist die Hauptgeschichte in diesem Monat. Danach haben wir die Fotos gesucht und manchmal war es auch eher intuitiv. Das Januarbild zum Beispiel sind Häftlinge aus dem Konzentrationslager, die sozusagen weggeführt werden. In diesem Monat spielt es eine große Rolle, dass die Konzentrationslager im Osten alle aufgelöst werden und die Transporte gen Westen gingen, also ins Innere des Reiches.
 
Das war mir wichtig zu erzählen. Denn wer Auschwitz und den Transport überlebt hat, der kommt zum Beispiel nach Mittelbau-Dora, wenn er Mittelbau-Dora überlebt, dann kommt er nach Bergen-Belsen. Wenn er Bergen-Belsen überlebt, dann überlebt er die Befreiung. Aber die meisten überleben das nicht.

Was ist Ihnen besonders nahegegangen?
 
Es geht einem alles nahe. Ich wollte eigentlich ein Buch schreiben, das lakonisch ist und nicht auf die Tränendrüse drückt. Erstaunlich fand ich einen Brief eines jüdischen Anwalts, der rechtzeitig nach England gegangen ist und die deutsche Delegation nach Berlin begleitete zur Unterzeichnung der Kapitulation.
 
In dem Brief beschreibt er unter anderem, wie Wilhelm Keitel (Anm. d. Red.: Generalfeldmarschall und Chef des Oberkommandos der Wehrmacht) ihn fragt, woher er so gut Deutsch könne. Der Anwalt überlegt zuerst, 'sage ich ihm jetzt die Wahrheit?' Und dann denkt er: 'Nein, das hat überhaupt gar keinen Sinn, ihm die Wahrheit zu sagen. Ich sage ihm einfach, wir haben gute Schulen gehabt, Herr Keitel.'
 
Damit hat er das Kapitel für sich beendet. Diesen mehrere Seiten langen Brief fand ich sehr bemerkenswert.

Sendung: Radio3, 15.11.2024, 09:10 Uhr