Berlin Max Ernst im Museum für Fotografie: Wie der Surrealismus eine Fliegerbombe in eine Nachtigall verwandelt
Der Surrealist Max Ernst hat als Künstler nicht fotografiert. Dennoch feiert das Berliner Museum für Fotografie jetzt den 100. Geburtstag des Surrealismus mit der Ausstellung "Fotogaga. Max Ernst und die Fotografie". Und das ist alles andere als gaga. Von Marie Kaiser
Das linke Auge von Max Ernst wartet gleich am Eingang der Ausstellung "Fotogaga", im Berliner Museum für Fotografie. Auf einer Schwarz-Weiß-Aufnahme des britischen Fotografen Bill Brandt ist nur der Ausschnitt des linken Auges zu sehen, umkränzt von Wimpern, gerahmt von Zornesfalten. Doch im Auge des surrealistischen Künstlers selbst, keine Spur von Zorn. Eher eine Wildheit und ein irrlichternder Glanz. "Seine Augen trinken alles, was in den Sehkreis kommt", hat Max Ernst einmal in der dritten Person über sich selbst gesagt. Das Motiv des Auges als Spiegel der Seele geistert durch viele surrealistische Kunstwerke. Neben dem fotografiertem Auge schweben dann auch zwei surrealistische Augen durch Zeichnungen des Künstlers.
Wildes und freies Sehen
Auf der Zeichnung "Der Ausbrecher" fliegt das Auge als eine Art riesengroßes Fischwesen oder Raumschiff über dem Horizont. Auf dem anderen ist das Auge als "Lichtrad" zu sehen. "Das Lichtrad ist ein Symbol für das Visionäre. Man sieht, wie der Blick sich weitet und dieser geöffnete, weite Blick ist das, was wir als Thema in der Ausstellung aufgreifen wollten", sagt Ludger Derenthal, Leiter der Sammlung Fotografie der Kunstbibliothek, der die Ausstellung gemeinsam mit Katja Böhlau kuratiert hat.
Schon im ersten Kapitel der Ausstellung wird klar, dass es hier auch um den Blick der Besucherinnen und Besucher geht, die zu einem wilden und freien Sehen ermuntert werden sollen. Ein Sehen, dass auch da Verbindungen wahrnimmt, wo der nüchterne Blick sie vielleicht nicht vermutet. Ein surrealistisches Sehen.
Was hat das alles mit Fotografie zu tun?
Entstanden sind die ungewöhnlichen Bleistiftzeichnungen von Augen 1925 für Max Ernsts Serie "Histoire naturelle" (Naturgeschichte). Es sind Frottagen. Das ist eine einfache Drucktechnik, die Max Ernst in die Kunst eingeführt hat. Dafür wird ein Gegenstand mit unregelmäßiger Oberfläche unter ein Papier gelegt. Wenn der Bleistift über das Papier streicht, zeichnen sich Strukturen auf dem Blatt reliefartig ab. Hier vermutlich die Maserung alter Holzdielen. Doch was hat all das mit Fotografie zu tun? Und warum widmet sich ausgerechnet das Museum für Fotografie anlässlich des 100. Geburtstag des Surrealismus einem Künstler wie Max Ernst, der sich selbst nie ernsthaft als Fotograf betätigt hat?
"'Fotogaga' ist eine Ausstellung, die bewusst, um die Ecke denkt", sagt Ludger Derenthal rbb|24. "Es ist keine klassisch ernste kunsthistorische Ausstellung. Das würde auch Max Ernst nicht gerecht werden, weil er als Dadaist und Surrealist versucht hat, gegen den Strich zu arbeiten. Und das versuchen wir mit dieser Ausstellung auch." Anhand von 270 Werken von Max Ernst und seinen Zeitgenossen bereitet die Ausstellung, die Verbindungen zwischen Max Ernst und der Fotografie spielerisch auf.
Korpsgeist, frühe Disziplinierung - die letztlich in einen sinnlosen, grausamen Krieg mündeten: Diese Erfahrungen finden sich immer wieder in Ernsts Kunst.
Kriegserfahrungen in Kunst verarbeitet
Zu sehen sind zahlreiche Fotocollagen, für die der Künstler gedruckte Fotografien aus Illustrierten oder Büchern ausgeschnitten und anschließend neu zusammengeklebt hat. Welche surrealistischen Verwandlungen da passiert sind, lässt sich in anhand der Collage "Le rossignol chinois/Die chinesische Nachtigall" nachvollziehen, auf der ein zartes vogelartiges Wunderwesen zu sehen ist. In einem Schaukasten sind die Zutaten zu sehen, die Max Ernst für die Collage verwendet hat. Das Foto einer Fliegerbombe auf einem Strohbett aus dem Buch "Deutsches Kriegsflugwesen" hat der Künstler hochkant gedreht. Dann hat Max Ernst aus der Fliegerbombe den Körper der Nachtigall geformt und ihn mit einem Fächer als Kopfschmuck, einem menschlichen Auge und zwei flügelartig ausgestreckten Händen verziert, so dass die Fliegerbombe als solche am Ende gar nicht mehr zu erkennen war.
Die "Chinesische Nachtigall" ist 1920 entstanden, also kurz nach dem Ersten Weltkrieg. "Max Ernst selber war für vier Jahre im Ersten Weltkrieg als Soldat und hat die Kriegserfahrung und das, was ihn an diesem Krieg maßlos geärgert hat, in diese künstlerische Arbeit einfließen lassen", erklärt Ludger Derenthal. "Eigentlich ist diese Collage relativ einfach, andererseits ungeheuer fantasievoll. Man muss, glaube ich, diesen Blick eines Surrealisten haben, um erkennen zu können, wie man mit Hilfe der Fotografie so schöne, spannende und überraschende Bilder schaffen kann."
Ein Mann namens Schnabelmax
Doch nicht nur in Collagen hat sich der Surrealist an der Fotografie abgearbeitet. Im Kapitel "Max Ernst vor der Kamera" zeigt sich, wie gern der Künstler sich selbst fotografieren ließ und welch große Lust er am Rollenspiel hatte. Auf zahlreichen Fotografien posiert Max Ernst mit seinen Kunstwerken. Manchmal auch gemeinsam mit seinen Partnerinnen. Auf einem Foto lehnen sich der Künstler und seine Ehefrau Dorothea Tanning an die großen Zementskulptur eines Steinbocks "Capricorn" und verschmelzen fast mit ihr.
Der bekannte Porträtfotograf Arnold Newman hat in der New Yorker Wohnung der kurzzeitigen Ehefrau von Max Ernst und Kunstsammlerin Peggy Guggenheim einen surrealistischen Moment eingefangen. Max Ernst sitzt in einem thronartigen, geschnitzten Holzsessel und raucht eine Zigarette. Der Qualm umwölkt den Kopf von Max Ernst und auf einer Seite formt sich neben seinem Kopf ein kleines Vogelwesen aus weißem Rauch. "Ein schöner fotografischer Zufall, denn der Vogel war ja eine Art Alter Ego für den Künstler und taucht in seinem Werk immer wieder auf", freut sich Ludger Derenthal. Seit seiner Kindheit hatte Max Ernst eine ganz besondere Affinität zu Vögeln und nannte sich bisweilen sogar selbst "Schnabelmax".
Surrealistische Selfies
Ein besonders schöner Moment in der Ausstellung, ist auch die Entdeckung eines Fotostreifen aus dem Fotoautomaten, der 1925 erfunden wurde und mit dem die Surrealisten gern experimentierten. Max Ernst schneidet auf den Fotos Grimassen der wildesten Art, hält sich die Hände vors Gesicht und schielt. Für Ludger Derental ist dieser Fotostreifen etwas ganz Besonderes: "Das sind die allerersten Selfies und gleichzeitig auch Statements. Ich kann machen, was ich will - Hauptsache, ich bin es, der entscheidet, was gemacht wird."
Sendung: rbb24 Inforadio, 18.10.2024, 11:55 Uhr