Hessen Angehende Psychotherapeuten: Fertig studiert, aber ohne Perspektive?
Wer psychotherapeutische Behandlung braucht, hat in Hessen schon jetzt oft monatelange Wartezeiten. Die Situation könnte sich in den kommenden Jahren massiv verschärfen. Dabei gibt es an den Universitäten genug Nachwuchs - aber einen Systemfehler.
Vorwerfen, dass er sich zu spät gekümmert habe, kann man Felix Kiunke nicht: Schon ein Jahr, bevor der heute 27-Jährige an der Uni Kassel sein Masterstudium in Klinischer Psychologie und Psychotherapie abschließen konnte, startete er im vergangenen Jahr eine Petition an den Bundestag. "Die Zukunft des psychotherapeutischen Nachwuchses ist in Gefahr", hieß es darin.
Dieser Satz gilt aus Sicht von Felix Kiunke heute noch unverändert, trotz des Erfolgs seiner Petition, die mit über 54.000 Unterzeichnungen zunächst an den Petitionsausschuss und dann weiter an die Bundesregierung ging.
Reform sollte für angemessene Bezahlung sorgen
Dabei sollte für den psychotherapeutischen Nachwuchs eigentlich alles besser werden: 2019 setzte der damalige Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) eine Reform um, wodurch die zehntausende Euro teure Ausbildung nach dem Psychologie-Studium durch eine vergütete Weiterbildung ersetzt werden sollte.
Felix Kiunke auf einer Demo am 16. Oktober in Berlin.
Universitäten in ganz Deutschland, auch in Kassel, Gießen, Marburg und Frankfurt, stellten ihre Psychologiestudiengänge entsprechend um.
Felix Kiunke hat dieses Studium in Kassel im Frühjahr dieses Jahres abgeschlossen, samt Approbation. Jetzt arbeite er in einem Bürojob bei einem Verband. "Ich würde jetzt gerne die Weiterbildung machen", sagt er. "Aber die existiert nicht so richtig."
Wer soll zahlen?
Denn woher das Geld für die vergütete Weiterbildung kommen soll, ist rund fünf Jahre nach der Reform nicht vollständig geklärt. Das hessische Sozialministerium verweist auf Anfrage darauf, dass der Bundesrat bereits im vergangen Jahr Nachbesserungen im Gesetz zur Psychotherapeutenausbildung eingefordert habe.
"Zunächst ist der Bund gefordert, die angekündigten Änderungen umzusetzen, damit die Vertragspartner entsprechende Vergütungsverhandlungen aufnehmen können", so das Ministerium. Vertragspartner seien dabei auf der einen Seite Kliniken und Ambulanzen, auf der anderen Seite die Krankenkassen.
Fragt man dort, bei den Krankenkassen, scheint die Sache geklärt: "Die gesetzlichen Krankenkassen vergüten, wie bisher auch, die psychotherapeutischen Leistungen im Rahmen der Weiterbildung", schreibt der GKV-Spitzenverband, der die gesetzlichen Krankenkassen in Deutschland vertritt.
- Die Weiterbildung aus ambulanten und stationären Teilen soll insgesamt fünf Jahre dauern und dazu dienen, dass sich die Absolventinnen und Absolventinnen auf einen Fachbereich - entweder Erwachsenen-, Kinder- und Jugend- oder neuropsychologische Psychotherapie - spezialisieren.
- Erst mit der abgeschlossenen Weiterbildung ist es erlaubt, als niedergelassener Psychotherapeut oder Psychotherapeutin zu arbeiten und einen sogenannten Kassensitz zu übernehmen.
- Anders als bei der früheren Ausbildung findet die Weiterbildung nach der Approbation statt. Sie soll im Angestelltenverhältnis bezahlt werden.
Psychotherapeutenkammer: Finanzierungslücke bleibt
Damit sei aber nur ein Bruchteil der Kosten gedeckt, sagt Heike Winter, Präsidentin der Psychotherapeutenkammer Hessen und Leiterin der Ausbildungsstelle für Psychotherapie an der Goethe-Universität in Frankfurt.
Das ist der Hauptgrund für diese Reform gewesen, dass wir da raus wollten, dass der Nachwuchs die Ausbildung alleine bezahlen und in prekären Verhältnissen absolvieren musste. Heike Winter, Psychotherapeutenkammer Hessen
Zur Weiterbildung gehören demnach auch Theorievermittlung, Supervision und die sogenannte Selbsterfahrung, bei der sich die angehenden Therapeutinnen und Therapeuten mit ihrer eigenen Psyche auseinandersetzen. "Das alles muss angestellt und mit angemessener Vergütung erfolgen", sagt Winter. "Das ist der Hauptgrund für diese Reform gewesen, dass wir da raus wollten, dass der Nachwuchs die Ausbildung alleine bezahlen und in prekären Verhältnissen absolvieren musste."
Wenige Plätze in Hessen
Die Schön Klinik in Bad Arolsen (Waldeck-Frankenberg) ist die erste und bislang einzige Klinik in Hessen, an der die neue Weiterbildung angeboten wird. Im November soll hier eine Gruppe von acht Personen mit dem Programm starten.
Es sei eine "bewusste strategische Entscheidung" gewesen, erklärt Klinikleiter Daniel Roschanski im Gespräch mit dem hr. Die Klinik werde das zusätzliche Geld für die Weiterbildungsplätze selbst in die Hand nehmen und an anderer Stelle einsparen müssen, so Roschanski. Schließlich brauche man in Zukunft unbedingt weiterhin gut ausgebildetes psychotherapeutisches Personal.
Daniel Roschanksi ist Geschäftsführer der Schön Klink in Bad Arolsen.
Doch selbst diejenigen, die in Bad Arolsen im November starten, haben damit noch nicht die gesamte Weiterbildung von fünf Jahren sicher: Die Klinik kann nur den stationären Teil anbieten, vorgeschrieben sind aber auch zwei Jahre im ambulanten Bereich - also vor allem in psychotherapeutischen Praxen. Dort gibt es in Hessen laut der Psychotherapeutenkammer noch kein einziges Angebot.
"Es ist schwer vorstellbar, dass das System so funktionieren wird", sagt Roschanski. Als Konzern könne die Schön Klinik für die Zusatzkosten aufkommen. "Aber Einzelpraxen können das unmöglich schaffen."
Studierende hängen in der Schwebe
Noch gebe es hessenweit mit rund 100 Absolventinnen und Absolventen erst wenige Betroffene, die wie Felix Kiunke auf Weiterbildungsplätze warten, sagt Heike Winter von der Psychotherapeutenkammer. Insgesamt gebe es pro Jahrgang rund 400 Studienplätze in Hessen. Viele hätten ihr Studium verlängert - wegen der Pandemie, teils aber auch bewusst wegen der ungeklärten Frage, wie es weitergeht, meint Winter.
Emily Wiegmann ist eine von ihnen. Eigentlich studiert sie im dritten Mastersemester an der Justus-Liebig-Universität Gießen, würde also im September des kommenden Jahres approbieren.
"Ich liebe diesen Master, es ist genau das, was ich machen möchte", sagt die Studentin am Telefon. Sie meldet sich aus Italien, wo sie gerade ein Auslandssemester macht. "Unter anderem, um mein Studium etwas zu strecken, weil sowieso im Moment keine Perspektive nach dem Ende meines Studiums da ist", sagt sie.
Letztendlich geht es um die mentale Gesundheit in Deutschland. Studentin Emily Wiegmann
In ihrem Jahrgang gebe es viel Frustration wegen der fehlenden Weiterbildungen. "Man fühlt sich hilflos", sagt sie. Dabei habe sie schon Bundestagsabgeordnete angeschrieben, um auf das Problem aufmerksam zu machen. Schließlich gehe es nicht nur um die Studierenden. "Letztendlich geht es um die mentale Gesundheit in Deutschland", sagt Wiegmann.
"Massives Versorgungsproblem" oder zu viele Absolventen?
Ähnlich sieht das Heike Winter von der hessischen Psychotherapeutenkammer. "Wir haben jetzt schon ein massives Versorgungsproblem", sagt sie. Wenn jetzt ein Nachwuchs-Stau entstehe, werde sich das in einigen Jahren auch im Psychotherapie-Angebot niederschlagen, befürchtet sie.
Doch offenbar haben die Krankenkassen eine völlig andere Einschätzung der Lage: Im Bereich der Psychotherapie gebe es "keine Versorgungsdefizite und keine Nachwuchsprobleme", heißt es vom GKV-Spitzenverband. Regelmäßig würden an den Universitäten mehr Menschen Abschlüsse sammeln, als es überhaupt Niederlassungsmöglichkeiten, also Kassensitze, gebe.
Schon jetzt lange Wartezeiten auf Therapieplätze
Aus Sicht von Heike Winter geht diese Rechnung nicht auf: "Es gibt viel zu wenig Kassensitze." Besonders Kinder und Jugendliche müssten schon jetzt in vielen Gegenden Hessens monatelang auf Therapieplätze warten. Erst im Juli hatten Psychiater und Psychotherapeuten in Südhessen einen Brandbrief verfasst und davor gewarnt, dass "das System total kollabiert".
"Das Versorgungsproblem ist im Moment kein Nachwuchsproblem", sagt Felix Kiunke, der sich auch in der Fachschaftenkonferenz seines Studiengangs (Psyfako) lange für die Finanzierung der Weiterbildung engagiert hat. "Aber wenn das so weiter geht und die Weiterbildung sich weiter verzögert, dann wird das irgendwann auch ein Nachwuchsproblem", sagt er.
Übergangsregelung läuft nach und nach aus
Für Felix Kiunke, der zu den ersten Jahrgängen des neuen Studiengangs gehört, gilt noch eine Übergangsregelung: Anders als Emily Wiegmann, die erst später mit ihrem Studium begonnen hat, dürfte er statt der neuen Weiterbildung auch die alte Ausbildung machen, die momentan an vielen Orten noch angeboten wird.
Für ihn persönlich komme das aber nicht mehr in Frage, sagt Kiunke. "Ich finde, dass die Bedingungen der Ausbildung, wie es sie in den vergangenen mehr als 20 Jahren gab, wirklich inakzeptabel sind." So lange habe er sich aus dieser Überzeugung heraus für die neue, bezahlte Weiterbildung eingesetzt, das werde er jetzt auch weiter tun.