Hessen Frankfurter Buchmesse: Friedenspreisträgerin Anne Applebaum gibt komplexe Antworten auf einfache Fragen
Anne Applebaum warnt vor der Zersetzung westlicher Demokratien, kommentiert US-Wahlen und den Krieg in der Ukraine. Und das in einer Art, die nach Ansicht des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels fast schon schmerzt. Dafür bekommt sie nun den Friedenspreis.
Verkehrte Welt sei das für sie, sagt Anne Applebaum. Als "working journalist", wie die gebürtige US-Amerikanerin sich bezeichnet, sei sie es gewohnt, auf der anderen Seite der Bühne zu stehen und Fragen zu stellen.
An diesem Freitag dagegen sind dutzende Pressevertreter aus ganz Europa auf die Frankfurter Buchmesse gekommen, um zu hören, was Anne Applebaum zu sagen hat.
Und das ist in ihrem Fall gewichtig: Am Sonntag wird sie in der Paulskirche mit dem Friedenspreis des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet.
Kämpferin für Demokratie und Frieden
Die 60-Jährige vielseitig zu nennen, wäre eine schamlose Untertreibung: Sie ist Historikerin, Journalistin, Kolumnistin, Professorin – und Co-Autorin eines Kochbuchs für polnische Rezepte.
Auf dem Podium sitzt Applebaum nicht wegen ihrer Tipps für die perfekten Pierogi oder das passende Rezept für Bigos-Eintopf, sondern – in den Worten der Friedenspreis-Jury – für ihren "eminent wichtigen Beitrag für die Bewahrung von Demokratie und Frieden".
"Sie öffnet uns die Augen"
Karin Schmidt-Friderichs, die Vorsteherin des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels, begründet das vor allem mit Applebaums Blick auf autokratische Regime und die Gefahren, die von solchen für die demokratische Grundordnung ausgehen.
"Sie öffnet uns die Augen für das, was passiert in diesen Regimen", so Schmidt-Friderichs. "Sie tut es akribisch, klar und so, dass es fast schmerzt, ihre Artikel und Bücher zu lesen."
Applebaum: Friedenspreis ist eine Ehre
Sie sei extrem überrascht gewesen, als die Nachricht vom Gewinn des Friedenspreises sie erreichte. Die Rolle, die ihr in politischen Debatten zugeschrieben werde, sei eine Ehre, sagt Applebaum und offenbart dabei eine Bescheidenheit, die ihrer Vita nicht angemessen erscheint.
Anne Applebaum ist mit dem polnischen Außenminister Radoslav Sikorski verheiratet. Zusammen haben sie zwei Kinder. Sie hat neben der US-amerikanischen auch die Staatsangehörigkeit von Polen, wo sie zeitweise lebt. Viele ihrer Werke fokussieren sich auf Osteuropa und die Entwicklungen von sowie die Bedrohungen für Demokratien. Appelbaum erhielt zahlreiche Literaturpreise.
Applebaum, 2004 für "Der Gulag" mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet, gelingt es, ein Bewusstsein für Bemühungen zu schaffen, die es für die Herstellung und Wahrung von Frieden braucht.
Bemühungen, die nicht immer pazifistischer Natur sind, wie sie nicht müde wird zu betonen – auch oder gerade weil Journalisten der Friedenspreisträgerin in spe diesen scheinbaren Gegensatz immer wieder vorhalten.
Ein Widerspruch, der keiner ist
Applebaum glaubt nicht an die eine Formel für Frieden, das sagt sie immer wieder. Demokratische Bemühungen seien oftmals der vielversprechendste Ansatz. Dazu rät sie etwa im derzeitigen Nahostkrieg, aber auch im Sudan, wo beinahe unbeachtet von der Welt Tausende sterben und Millionen vertrieben werden.
Anne Applebaum bekommt am Sonntag den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels verliehen. Zuvor beantwortete sie die Fragen der Journalisten.
Sie, die den Scheinwerfer nicht erst seit der jüngeren Vergangenheit immer wieder auf das Schicksal des ukrainischen Volkes richtet, ist zugleich überzeugt davon, dass Frieden im Falle des aktuellen Kriegs mit Russland vor allem auf dem Schlachtfeld herzustellen ist.
Oder schon im Vorfeld des Überfalls auf die Krim 2014 zu wahren gewesen wäre: mit einer adäquaten Bewaffnung der Ukraine. Ein Widerspruch? Für Applebaum nur vordergründig.
Zu realistisch für einfache Antworten
Angesprochen auf ihr Verständnis von Frieden, erklärt die Historikerin, dieses sei "a nuanced one", also ein komplexes und keines, das lediglich mit einer Abwesenheit von Krieg und Waffengewalt begründet werden könne.
Für einfache Antworten in einer Welt der größtmöglichen Vereinfachung scheint Applebaum keine großen Sympathien zu hegen. Oder besser gesagt: Sie ist zu realistisch.
Liberale Weltordnung als Gegner
In ihrem rechtzeitig zur Buchmesse erschienenen Buch "Die Achse der Autokraten" beschreibt Applebaum autokratische Regime wie eben Russland, China oder Iran als einen losen Verbund von Staaten, die nicht zwingend die gleichen geopolitischen Ziele teilen müssten, ja nicht einmal eine gemeinsame Weltanschauung.
Sie arbeiteten aber zusammen, wenn es ihnen gerade passe. Ein Beispiel: Russland etwa kämpfe so nicht allein gegen die Ukraine, sondern eben auch mit nordkoreanischer Munition und iranischen Drohnen. Was diese Autokratien eine, sei ein gemeinsamer Gegner: "Wir. Menschen, die in einer liberalen, demokratischen Welt leben", sagt die 60-Jährige. "Sie werden von diesen Staaten als Bedrohung gesehen, die bekämpft wird."
Soziale Medien als Schlachtfeld
Und das nicht nur auf dem Schlachtfeld, sondern auch in den Köpfen der Menschen beziehungsweise überall dort, wo sie erreicht werden könnten.
Autokratische Kräfte seien problemlos in der Lage, dieselbe Lüge innerhalb weniger Minuten auf Hunderten von Websites und in zahlreichen sozialen Netzwerken zu verbreiten, ohne dass die Betreiber ein Interesse daran hätten, dies zu unterbinden.
Ihr Antrieb sei es nicht, eine bessere Welt zu schaffen, ist sich Applebaum sicher. Vielmehr gehe es den Betreibern darum, Geld zu machen. Demokratische Regierungen seien in Bezug auf Social Media "spät dran".
"Trump kein Anführer einer demokratischen Koalition"
Jemand, der das Spiel mit den sozialen Netzen und den Köpfen unsicherer Menschen durchaus beherrscht, könnte bald ein zweites Mal Präsident der Vereinigten Staaten werden: Donald Trump.
Auf X begleitet Applebaum den Wahlkampf des Republikaners kritisch und unermüdlich. Kein Wunder also, dass die Friedenspreisträgerin an diesem Freitag auch zu den möglichen Auswirkungen einer neuerlichen Trumpschen Präsidentschaft befragt wird.
Eine einfache Antwort hat die Journalistin darauf erwartungsgemäß nicht. Das sei ein weites Feld, antwortet Applebaum.
Trump sei in erster Linie für sich, für seinen Machtanspruch und für Geld in die Politik gegangen. "Er wird kein Anführer einer großen demokratischen Koalition werden. Und er wird auch nicht den europäischen Wohlstand im Sinn haben."