Hessen Interview zu Protestkultur: "Protestbewegungen brauchen Fürsprecher in der Regierung"
Die Zahl der Demonstrationen in Hessen steigt. Der Marburger Politologe Tariq Sydiq vergleicht in einem neuen Buch Proteste weltweit. Im Interview spricht er über das Erfolgsrezept der Bauernproteste und über die Schwierigkeiten bei der Letzten Generation.
Klimaaktivisten blockierten den Frankfurter Flughafen, Landwirte legten mit ihren Traktor-Sternfahrten in ganz Deutschland Verkehrsknoten lahm, eine Investigativ-Recherche löste bundesweiten Protest gegen die AfD und Rechtsextremismus aus, eine kleine Lokführergewerkschaft stoppte immer wieder den Bahnverkehr.
Von Jahr zu Jahr wächst die Zahl der Demonstrationen in Hessen. Weltweit riskieren Menschen für ihre Werte sogar ihre Freiheit - etwa in Hongkong, im Sudan und im Iran. Der Politikwissenschaftler Tareq Sydiq am Zentrum für Konfliktforschung der Universität Marburg untersucht Proteststrategien weltweit.
Auf der Buchmesse in Frankfurt stellt er sein neues Buch "Die neue Protestkultur" vor. Mit hessenschau.de hat er darüber gesprochen, wann Proteste erfolgreich sind, warum die Letzte Generation relativ wenig Zuspruch hat und warum die Bauernproteste zu Beginn des Jahres hingegen funktioniert hätten.
Das Gespräch führte Sonja Fouraté.
hessenschau.de: Herr Sydiq, in Ihrem Buch haben Sie Beispiele aus aller Welt gesammelt, in denen Protestbewegungen in Demokratien und Autokratien erfolgreich waren, aber auch Beispiele für deren Scheitern. Was können Protestierende hierzulande daraus lernen?
Tareq Sydiq: Es zeigt unter anderem, wie wichtig Einheit ist. Spaltungsversuche sind etwas, was Autokratien sehr häufig unternehmen. Es gibt auch innerhalb von Protestbewegungen unterschiedliche politische Präferenzen und es macht einen Unterschied, ob diese Unterschiede ausdiskutiert werden können oder ob die Bewegung sich spalten lässt. Für Autokratien ist es eine existenzielle Frage, ob eine Protestbewegung vereint bleibt oder nicht.
hessenschau.de: Sie beschreiben auch, wie Protestwellen zu sozialen Bewegungen werden und im vorpolitischen Raum, also außerhalb von Parteienstrukturen, so erfolgreich sind, dass sie eine kulturelle Hegemonie erlangen. Hat die AfD, haben Rechtsextreme in Teilen Ostdeutschlands eine solche Übermacht erreicht?
Sydiq: Tatsächlich würde ich sagen, dass in Teilen Deutschlands - nicht nur in Ostdeutschland - die AfD und Rechtsextreme eine Art kulturelle Hegemonie haben. Das basiert auf Strukturen, die lange vor der AfD existiert haben. Das hat unter anderem damit zu tun, dass Rechtsextreme fast dazu gezwungen waren, neue Strukturen aufzubauen, nachdem diverse Vereine in den Neunzigern verboten und verdrängt wurden.
hessenschau.de: Was sie eigentlich schwächen sollte. Wie haben Rechtsextreme es geschafft, zur sozialen Bewegung zu werden?
Sydiq: Sie haben immer wieder auch linke progressive soziale Bewegungen kopiert. Sie haben gelernt, wie diese agieren, um den vorpolitischen Raum zu besetzen. Das ist eine ursprünglich linke Idee, die das linke Spektrum erfolgreich genutzt hat und die dann an Rechte und rechtsextreme Ziele angepasst wurde. Wir haben immer wieder erfolgreiche linke soziale Bewegungen, das ist eine ganz lange Tradition.
Protestforscher Tarek Sydiq warnt vor autoritären Tendenzen beim Versammlungsrecht.
hessenschau.de: Im Buch nennen Sie die Arbeiterbewegung als Beispiel. Welches sind erfolgreiche linke Bewegungen der jüngeren Zeit?
Sydiq: Diese konnten wir sehr gut beobachten bei den Protesten gegen Rechtsextremismus Anfang des Jahres. Dort waren bereits existierende Organisationsgruppen extrem wichtig. Viele, die sich gegen Rechtextreme engagieren, die machen das nicht erst seit Januar dieses Jahres, sondern seit Jahrzehnten. Das sind Netzwerke, die seit langem existieren, die weiterhin eine Rolle spielen und die auch teilweise regional sehr erfolgreich sind.
hessenschau.de: Und doch bleibt der Eindruck, dass die Proteste vom Januar komplett abgeebbt sind – trotz der Wahlerfolge der AfD.
Sydiq: Alles andere hätte mich gewundert. Man kann nicht über einen so langen Zeitraum eine so große Anzahl von Menschen mobilisiert halten, das ist sehr unüblich für Protestbewegungen. Was man normalerweise sieht, ist, dass es nach einem moralischen Schock eine enorme Partizipation gibt. Denken Sie zum Beispiel auch an die Proteste gegen den Krieg Russlands in der Ukraine. Da haben wir spontan Massenproteste gehabt, wovon ein Jahr später kaum etwas übrig war.
Wenn man einen Vergleich anlegt, wie das bei anderen Protesten ist, dann würde ich sagen, dass das Geschehen bei den Protesten gegen Rechtsextremismus immer noch auf so einem moderaten Niveau ist. Man hat auch kurz vor den Landtagswahlen in Sachsen und in Thüringen gesehen, dass es noch einmal Demonstrationen gab, die ein durchaus beeindruckendes Ausmaß hatten, aber eben nicht diese großen Bevölkerungsgruppen mobilisieren konnten.
hessenschau.de: Das führt zu den Aktionen der Letzten Generation, warum haben diese verhältnismäßig wenig Zuspruch?
Sydiq: Wenn ich in den öffentlichen Raum interveniere, also wenn ich etwas blockiere, wenn ich etwas beschmutze, beschrifte, beschädige, dann bekomme ich immer eine Gegenreaktion, denn ich störe Menschen. Das kann taktisch Sinn machen, aber das geht eben nicht darüber, dass ich Sympathien erzeuge, um mich durchzusetzen, sondern dass ich die Öffentlichkeit nerve. Sie muss sich mit mir also auseinandersetzen und vielleicht mit mir verhandeln.
Das funktioniert besser, wenn ich eine Gewerkschaft bin, die gut organisiert ist, die gut vertreten ist, die auch ein wirtschaftliches Faustpfand in der Hand hat und dadurch Verhandlungen erzwingen kann.
hessenschau.de: Anders als die Letzte Generation, die ein vergleichsweise loser Zusammenschluss von Klimaaktivisten ist.
Sydiq: Wenn ich eine Aktionsgruppe bin, die in öffentlichen Raum interveniert und deren Adressat nicht zu 100 Prozent klar ist, dann ist es ohnehin schwieriger. Die Letzte Generation will Veränderungen von der Politik, aber vielleicht auch von der Öffentlichkeit, denn die wählt eben diese Politik. Das diffundiert ein bisschen und wirft die Frage auf, was genau das strategische Ziel ist, das mit dieser Protestform verfolgt wird.
hessenschau.de: Welche Rolle haben die Medien dabei?
Sydiq: Es ist so, dass ich Protestgruppen, die mir näherstehen, etwas anders einordne als Protestgruppen, die mir ferner stehen. Wenn ich zum Beispiel mit dem Zug wegen eines Streiks mein Ziel nicht erreiche, dann ist das erstmal etwas, das nervt. Aber wenn ich Sympathien habe für Lokführer, dann drücke ich eventuell beide Augen zu.
Wenn ich aber der Gruppe überhaupt nicht nahestehe, dann deute ich deren Protest eher negativ. Bei der Letzten Generation konnte man konstatieren, dass in einem konservativen Spektrum die Empörung recht groß ist, was sich auch in der Medienberichterstattung widerspiegelt.
Und das hat sich verfestigt, denn es gab auch keine politischen Erfolge. Und wenn man politisch keine Erfolge vorweisen kann, die den Protest rechtfertigen können, dann verliert man an Beliebtheit.
hessenschau.de: Die protestierenden Bauern, die ebenfalls Straßen blockiert haben, wurden dagegen gehört. Zumindest ein Teil der Entscheidungsträger und auch der Medien fühlt sich ihnen also näher?
Sydiq: Genauso würde ich das einordnen. Ein Beispiel ist eine Rede von Christian Lindner bei einem Bauernprotest. Ein großartiges Bild, denn die Bauernvertreter:innen wirkten nicht begeistert von der Präsenz des Ministers, der die Entscheidung mitverantwortet hat, gegen die sie jetzt protestierten. Aber was eine Rolle spielt, ist, ob eine Protestbewegung einen Fürsprecher innerhalb der Regierung hat.
Außerdem spielt eine Rolle, dass die Proteste der Bauernschaft zu dem Zeitpunkt relativ neu waren, was eine neue Berichterstattung ausgelöst hat. Dagegen hatten sich die Proteste der Letzten Generation zu dem Zeitpunkt schon über einen langen Zeitraum erstreckt und es hatte sich eine gewisse Müdigkeit eingestellt.
hessenschau.de: Welche Rolle spielen soziale Medien bei Protesten, aber auch im Hinblick auf Wahlen?
Sydiq: Es gab nach den Europawahlen, glaube ich, eine ganz große Debatte, der AfD Tiktok nicht zu überlassen. Da besteht meiner Meinung nach ein Missverständnis. Es stimmt, die AfD ist auf Tiktok präsent, aber ihr Erfolg dort liegt nicht daran, dass sie dort nur präsent ist. Er liegt darin, dass sie ein Umfeld aus Influencern hat und dass es ein Milieu gibt, mit dem sie interagiert. Es gibt einen Resonanzraum, mit und in dem die AfD ihre Inhalte verbreiten kann.
Das heißt für andere Parteien, es reicht nicht, dort nur präsent zu sein. Es braucht tatsächlich gesellschaftliche Akteure, die ebenfalls dort sind und die Inhalte verteilen. Dafür spielen wiederum soziale Bewegungen eine ganz große Rolle, da spielen generell Aktivist:innen, engagierte Menschen, auch Medienschaffende eine Rolle, die mit dem Parteienmilieu verbunden sind, und die einen Resonanzraum schaffen.
hessenschau.de: Eingangsfrage war, was Aktivisten aus Ihrem Buch lernen können. Gibt es etwas, das die Politik lernen kann?
Sydiq: Ich glaube, was Politiker:innen durchaus von dem Buch lernen könnten, ist, wie wichtig das Recht auf Proteste ist, und zwar als Grundrecht. Und wie Politik dieses Recht unterminieren kann, mit teilweise sehr guten Absichten. In den vergangenen Jahren gab es auch in Deutschland immer wieder Einschränkungen bei der Versammlungsfreiheit.
Aber gerade in einer Zeit, in der nicht klar ist, ob vielleicht Rechtsextreme irgendwann eine Mehrheit in diesem Land haben, besteht die Gefahr, dass die derzeitigen Entscheidungsträger das Grundrecht schon einmal abgeschafft haben und es dann keine Möglichkeiten mehr gibt, sich gegen Menschen zu wehren, die die Demokratie abschaffen wollen.
Tareq Sydiqs Buch "Die neue Protestkultur. Besetzen, kleben, streiken: Der Kampf um die Zukunft" ist spannend und für eine breite Leserschaft geschrieben. Gleichzeitig liefert es gut verständliche wissenschaftliche Definitionen, zum Beispiel die einer sozialen Bewegung. Für die Frage, wann Proteste erfolgreich sind und wann sie scheitern, liefert das Buch eine Rückschau. Eine Art Handlungsanleitung für zukünftig erfolgreiche Proteste lässt sich daraus aber nicht ableiten, wie Sydiq selbst betont, weil sich oft erst nach Jahren herausstellt, was Proteste letztendlich bewirkt haben.
Aus deutscher Perspektive sind die aufgeführten internationalen Beispiele schwer übertragbar, weil sie sich in Autokratien abspiel(t)en. Allen Einschränkungen zum Trotz liefert "Die neue Protestkultur" aber Hinweise darauf, was zum Beispiel Rechtsextreme in Teilen Deutschlands so erfolgreich macht. Und es ist ein Plädoyer für das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit, das in den vergangenen Jahren allzu häufig auch in Deutschland eingeschränkt wurde. Fazit: Ein (mit kleinen Einschränkungen) lesenswertes Buch. (von Sonja Fouraté)