Hessen Verein verwandelt Postsiedlung in Darmstadt mit Kultkiosk und Kneipe
Der Tante-Emma-Laden um die Ecke, Kioske oder Kneipen – in hessischen Städten sind viele Begegnungsorte in den letzten Jahrzehnten verloren gegangen. Der Darmstädter Verein 'Zusammen in der Postsiedlung' will mit Retro-Kiosk, Biotop und Vereins-Kneipe aus seinem Viertel eine lebenswertere Nachbarschaft machen.
"Ich möchte gern Brause-Ufos, weiße Mäuse und Pfefferminzbonbons mit Schokofüllung." Das sommersprossige Gesicht der neunjährigen Kira leuchtet, während sie am Tresen des kleinen Kiosk 1975 in der Moltkestraße ihre Naschtüte zusammenstellt. Die Schlange hinter ihr ist lang.
An den Holztischen neben dem Kiosk sitzen viele Leute in der späten Herbstsonne, trinken Kaffee oder Zitronenlimonade und unterhalten sich. Eine Gruppe Schulkinder spielt auf der Wiese Fangen, rüstige Senioren und Menschen mit Behinderung knüpfen Kontakte mit Leuten aus der Nachbarschaft.
Süßes aus verschiedenen Jahrzehnten
Im Fenster des Retro-Kiosk hängen alte Illustrierte aus den 70er Jahren, nebendran in der Auslage locken Gläser randgefüllt mit beliebten Süßigkeiten verschiedener Jahrzehnte. Der kleine, kultige Rundbau ist längst zu einem zentralen Treffpunkt für die Menschen aus dem Viertel geworden – egal ob jung oder betagt, vermögend oder finanziell nicht so gut gestellt, alteingesessen oder frisch zugezogen, mit oder ohne Migrationshintergrund.
"Unser Ziel war ganz klar: Wir möchten diesen sozialen Ort wiederbeleben, wo man einfach hingehen und ohne Barrieren ein Schwätzchen halten kann", erzählt Bastian Ripper vom Verein 'Zusammen in der Postsiedlung e.V.' "Es gab mal sechs Kioske hier im Quartier, viele Gaststätten und Kneipen – die sind alle nach und nach verschwunden." Mehr als 30 Jahre stand auch das Wasserhäuschen hier an einer Kreuzung leer, bevor es der Nachbarschaftsverein im vergangenen Jahr wiedereröffnet hat.
Bei den Kids besonders beliebt: die guten, alten Naschtüten!
Denkmalgeschütztes Schmuckstück wieder hergerichtet
200.000 Euro für die aufwändige Sanierung des denkmalgeschützten Kiosks wurden von der Stadt Darmstadt finanziert, 27.000 Euro hat der Verein selbst durch Spenden aus dem Quartier beigesteuert. Seitdem betreibt der Verein den Kiosk mithilfe vieler ehrenamtlicher Helfer, die hier teils mehrmals pro Woche mitarbeiten. Dafür wurde der Verein unter anderem als Landessieger des Deutschen Nachbarschaftspreises ausgezeichnet.
Auch die Gäste hier sind vom großen Engagement des Teams begeistert, so wie die 39-jährige Sabrina Mehlhase. "Das Projekt ist einzigartig hier in der Gegend." Es sei toll, dass sie hier einfach nach der Schule noch spontan mit anderen Eltern und Kindern zusammenkommen könnten. "Es ist so klasse, mit welcher Leidenschaft die Leute hier dahinterstehen und was für tolle Pläne sie mit dem Verein noch haben."
Das gemeinsame Motto: "Taten statt Warten!"
Denn der Kiosk ist nur eins von vielen Projekten des umtriebigen Nachbarschafts-Vereins. Seit seiner Gründung im Jahr 2015 hat 'Zusammen in der Postsiedlung' insgesamt sechs soziale Treffpunkte aufgebaut – schräg gegenüber des Kiosk betreibt der Verein zum Beispiel einen Umsonstladen, hat in der Nähe ein großes innerstädtisches Biotop aufgebaut und bietet einen Senioren-Mittagstisch an.
"Außerdem machen wir auch soziale Einzelfallhilfe im Quartier, vor allem für ältere Menschen und Menschen mit Behinderung", sagt der 49-jährige Vorsitzende Bastian Ripper. Das große Ziel sei, im Darmstädter Westen eine solidarische Nachbarschaft zu schaffen.
Der Vorsitzende Bastian Ripper arbeitet hauptamtlich für den Verein.
"Gerade wenn ich sehe, wie unsere Senioren so ein bisschen aus ihrer Einsamkeit herauskommen, Begegnungen mit Familien haben und langfristige Kontakte mit Nachbarn knüpfen – da geht mir einfach das Herz auf." Bastian Ripper strahlt. Ein besonderes Anliegen des Vereins sei es auch, Menschen mit körperlicher oder geistiger Behinderung aktiv zu integrieren. "Es wird kein Bohei darum gemacht, sie sind einfach mit an Bord", betont Ripper.
Auch die 42-jährige Nicole Rexroth profitiert sehr davon, dass sie fast täglich im Umsonstladen und beim Senioren-Mittagessen mitarbeitet. "Ich bin eigentlich ein zurückhaltender Mensch", gesteht sie. "Aber hier fühle ich mich richtig wohl, habe Freunde gefunden und wir helfen uns gegenseitig."
Ich höre oft: Als Einzelner kann man doch gar nichts tun. Wir alle, die sich hier engagieren, halten das für grundfalsch. Man kann unheimlich viel tun – nämlich da, wo man selbst steht. An dieser Stelle können wir die Welt ein ganz klein wenig verändern. Und wir versuchen hier genau das zu tun." Bastian Ripper, hauptamtlicher Vereinsvorsitzender
Aktuell zählt der Verein rund 85 Mitglieder, in ihrer Freizeit engagieren sich aber laut Ripper "weit mehr als 100 Menschen aus dem Viertel". "Unser Motto ist: Taten statt Warten!", betont er. Das Geheimnis der Truppe liege darin, keine großen Masterpläne zu schmieden, sondern einfach mit Spaß und Tatendrang anzupacken und sich gemeinsam auf den Weg zu machen.
"Wir haben schnell festgestellt, dass es unheimlichen Bedarf gibt nach sozialer Nähe im Quartier", erzählt Ripper. "Dass so viele Leute begeistert sind und sich engagieren, motiviert uns und trägt uns immer weiter!"
Der hr startet ab 14. Oktober eine Initiative für mehr Meinungsvielfalt und Dialog – in der Gesellschaft und auch in unseren hr-Angeboten. 39 Hessinnen und Hessen haben bei uns im hr über teils kontroverse Themen diskutiert und sich ausgetauscht – etwa über Heimat, Demokratie, Ängste oder Medienkritik. Diese Menschen bilden den Querschnitt der hessischen Bevölkerung ab und somit auch die ganze Vielfalt von Ansichten, um ein möglichst vielschichtiges Bild davon zu zeigen, was die Menschen in Hessen denken und fühlen.
Die Teilnehmenden waren sich einig: Es lohnt sich, sich Zeit füreinander zu nehmen, zuzuhören und Verständnis für die Positionen anderer aufzubringen. Sie haben festgestellt, dass sie am Ende mehr verbindet als trennt, trotz unterschiedlicher Standpunkte und Meinungen. Mit dieser Initiative möchte der hr den Startschuss geben für künftig noch mehr Meinungsvielfalt und Dialog in seinen Angeboten.
Das neueste Herzensprojekt der Ehrenamtlichen entsteht aktuell nur wenige Straßen entfernt. Hinter großen Fenstern eines hellgetünchten Eckhauses dröhnt eine Flexsäge. Tino Engelmann beugt sich mit Schutzbrille und Kopfhörern über ein großes Spülbecken aus Edelstahl, das er unter Funkenflug auf die richtige Länge stutzt. Gemeinsam mit zwei anderen Freiwilligen hebt er das große Teil anschließend über die hölzerne Verkleidung der Bartheke, die sie hier seit mehreren Wochen in ihrer Freizeit einbauen. Dann werden die Zapfhähne eingesetzt, aus denen später das Bier sprudeln soll.
"Diese Theke hier richtig einzupassen, macht viel Arbeit", erzählt der 36 Jahre alte Tino. "Wir haben sie in einer ehemaligen Gaststätte in Worms Stück für Stück abgebaut und müssen sie jetzt hier so anpassen, dass alles perfekt sitzt." Noch ist der helle Raum eine Baustelle, erste Möbel im hinteren Bereich sind noch mit Plastikfolie abgedeckt.
Ehrenamtliche wie Tino Engelmann arbeiten mit vollem Körpereinsatz an der zukünftigen Vereins-Kneipe.
Hoffentlich bis zum Winter soll hier die eigene Vereins-Kneipe entstehen. "Wir wollen das nicht kommerziell betreiben, sondern einfach als Treffpunkt für die Nachbarschaft, an dem wir Spaß haben." Ein Nachbar hat eine alte Jukebox beigesteuert, die noch voll funktionstüchtig ist und aus der im Hintergrund schon leise Musik aus den 80ern scheppert.
Wirt für einen Abend werden
Der Stil der ehrenamtlich geführten Kneipe? Ähnlich wie beim Kiosk 1975 eher oldschool als modern. "Es soll gemütlich sein", findet Bastian Ripper. "Ältere Menschen kennen es so von früher und fühlen sich wohl, viele Jüngere mögen aber auch gern etwas Nostalgie."
Das Konzept sieht vor, dass qualifizierte Freiwillige sich regelmäßig als 'Wirt für einen Abend' hinter den Tresen stellen und Gastgeber für Menschen aus der Nachbarschaft sein können. Der Name der neuen Quartierskneipe steht noch nicht fest – mehrere Favoriten seien noch im Rennen.
Das Highlight der zukünftigten Vereinskneipe: eine alte, holzverkleidete Jukebox.
"Das kann man in jeder Stadt genau so machen"
Der Verein hat also noch viel vor für die Menschen in der Darmstädter Postsiedlung. Dabei sei die Unterstützung seitens der Stadt Darmstadt und der Kommunalpolitik immens hilfreich. Bastian Ripper sieht die Initiative aber gar nicht so sehr als Leuchtturm-Projekt oder gar Ausnahme.
Die Postsiedlung sei überhaupt nicht spannend oder besonders – sondern ein ganz normales Wohnviertel in einer deutschen Großstadt. Um etwas zu bewegen, brauche es nur eine Handvoll motivierter Leute, die sich nicht schnell frustrieren lassen und voranschreiten. "Das ist unsere Botschaft: In jeder Stadt, in jedem Quartier ist sowas wie hier möglich", sagt Ripper.