Die vier Türme der Kirche "Unser Lieben Frauen" neben dem Händel-Denkmal gehören zu den Wahrzeichen der Stadt Halle.

Sachsen-Anhalt Halle zählt mehr Einwohner als der Zensus: Was bringt die Aktion?

Stand: 29.10.2024 16:11 Uhr

Einwohnerzahlen sind die Währung der Kommunen, wenn es um die Zuweisung von Steuergeldern geht. Ärgerlich ist deshalb, wenn bei einer Volkszählung plötzlich weniger Menschen übrig bleiben als eigentlich angenommen. Beim Zensus 2022 wurden der Stadt Halle rund 17.000 Einwohner weniger ausgewiesen als bisher. Für die Saale-Stadt bedeutet das Einnahmeausfälle von rund 11 Millionen Euro. Die Stadt Halle hat deshalb eine eigene Zählung auf den Weg gebracht – und schöpft nun neue Hoffnung daraus.

Von Marc Weyrich, MDR SACHSEN-ANHALT

Nach den Ergebnissen des Zensus hatte die Stadt Halle Zweifel am Ergebnis: Also zählte die Kommune per Stadtratsbeschluss ihre Einwohner selbst. Die 243.345 Personen im Melde-Register der Stadt bekamen Post – die Rückläufer wurden gezählt. Bis Ende September waren rund 6.000 Briefe als unzustellbar zurückgekommen, teilte die Stadt MDR SACHSEN-ANHALT mit. Nach weiteren Nachforschungen blieben davon rund 4.500 Einwohner tatsächlich unauffindbar.

Wie Stadt-Sprecher Drago Bock mitteilte, hatten zudem knapp 400 Menschen die Stadt angeschrieben, weil sie dort wohnen, aber keinen Brief bekommen haben. "Die Rückläufer-Quote entspricht damit 1,83 Prozent", heißt es von der Stadt, die betont, dass dies ein Zwischenergebnis sei. Denn die noch verbliebenen Rückläufer würden derzeit von der Ausländerbehörde und dem Fachbereich Sicherheit überprüft. Damit hätte die Stadt Halle 12.500 Einwohner mehr, als der offizielle Zensus herausgearbeitet hat.

Eigener "Zensus": So ist die Stadt Halle vorgegangen

Die Stadt Halle hat seit diesem Sommer mehr als 243.000 Briefe verschickt, um die Zahl ihrer Einwohner zu überprüfen: Sie gingen demnach an alle Menschen, die im Melderegister als Einwohner Halles geführt werden. Rund 5.900 Briefe kamen den Angaben nach als nicht zustellbar zurück. Alle Einwohner, die ihren Erstwohnsitz in Halle haben, aber keinen Brief erhielten, hatten sich bei der Stadt melden sollen.

Bürgermeister Geier: "Statistische Hochrechnungen nicht plausibel"

Entsprechend deutlich äußerte sich Halles Bürgermeister Egbert Geier (SPD): "Unsere Aktion zeigt ganz klar, dass das Melde-Register der Stadt die tatsächliche Einwohnerzahl mit einer großen Genauigkeit abbildet. Die statistischen Hochrechnungen des Zensus sind dagegen nicht plausibel."

Laut einer Pressemitteilung der Stadt ist im Juni 2024 die Plausibilität ihres Melderegisters geprüft worden, unter anderem durch Abgleiche von nicht zustellbaren Wahlbenachrichtigungen und Steuer-ID-Daten. Diese Überprüfung hätte eine Abweichungen von weniger als einem Prozent zur tatsächlichen Einwohnerzahl ergeben.

Geier forderte das Land auf, die Finanz-Zuweisungen an die Kommunen nach der tatsächlichen Einwohnerzahl laut Melde-Register zu verteilen und nicht auf Basis statistischer Hochrechnungen. Dabei nahm der Kommunalpolitiker, der im Februar zum Oberbürgermeister gewählt werden will, auch andere Städte des Landes in den Blick, wie etwa Dessau-Roßlau, Merseburg, Bitterfeld-Wolfen, Weißenfels, Köthen, Stendal, Halberstadt, Bernburg, Oschersleben und Lutherstadt Wittenberg. Alle stünden, so Geier, wegen des Zensus vor der Situation, mit viel weniger Geld gleiche Leistungen erbringen zu müssen.

Bürgermeister Egbert Geier (SPD). Seit der Suspendierung von Oberbürgermeister Bernd Wiegand ist Egbert Geier der amtierende Bürgermeister.

Bürgermeister in Halle: Egbert Geier

Schlechte Chancen gegen den Zensus

Das Statistische Landesamt begrüßt zwar die Zählung "als ein[en] Schritt zur Verbesserung der Qualität des Melderegisters". Die Methode sei aber nicht geeignet, um die Ergebnisse des Zensus 2022 zu überprüfen, so die Behörde.

Auch Weißenfels' Oberbürgermeister Martin Papke (CDU) sagte MDR SACHSEN-ANHALT, er sehe wenig Chancen, gegen die Resultate des Zensus erfolgreich vorzugehen. Alle erhobenen Daten der letzten Zählung seien bereits vernichtet worden. Eine stichhaltige Prüfung sei so nicht mehr möglich. Dennoch will auch Weißenfels die Ergebnisse des Zensus überprüfen.

Halle bereitet Argumente für Anhörung beim Landesamt vor

Die Stadt Halle bereitet derweil nach eigenen Angaben ihre Argumentation für die im November stattfindende Anhörung beim Statistischen Landesamt vor. Parallel dazu stimmt sie sich hinsichtlich eines gemeinschaftlichen Vorgehens im Land mit betroffenen Kommunen ab.

Egbert Geier nimmt auch den Städte- und Gemeindebund in die Pflicht und verweist auf das Modell eines anderen Bundeslandes: "Ich sehe den Städte- und Gemeindebund Sachsen-Anhalt in der Pflicht, seine Mitglieder zu unterstützen und unserer Forderung gegenüber dem Land Nachdruck zu verleihen. Beispielweise regelt das Land Rheinland-Pfalz in seinem Landesfinanzausgleichsgesetz als Grundlage für die Finanz-Ausstattung der Kommunen die Einwohnerzahlen entsprechend des Melde-Rechts."

Zensus: Halle drohen Verluste in Millionenhöhe

Sollte weiterhin die Hochrechnung des Zensus 2022 Grundlage für die finanziellen Zuweisungen des Landes an die Stadt sein, drohen Halle jährlich Einnahmeverluste in Millionenhöhe. Konkret, laut Hochrechnung der Stadt, wären das im Jahr 2025 voraussichtlich rund 10,9 Millionen Euro. 

Die Zensus-Behörden hatten unter anderem auf Basis einer Befragung von rund 10 Prozent der Bevölkerung und einer darauf basierenden Hochrechnung eine Einwohnerzahl von rund 226.600 für die Stadt Halle (Saale) ermittelt. Das entspreche im Abgleich mit den aktuellen Daten des Melde-Registers einem nicht plausiblen "Einwohnerschwund" von rund 16.800 Personen.

Wie wurde die Einwohnerzahl beim Zensus ermittelt?

Der Zensus 2022 hat zum Stichtag 15. Mai die Einwohnerzahl aller Gemeinden Deutschlands ermittelt. Als Daten-Grundlage dienten dabei die Zahlen des Melderegisters, die jedoch mit statistischen Mitteln korrigiert wurden: Einerseits wurden Doppelungen durch mehrere Wohnsitze entfernt, andererseits Befragungen auf Stichproben-Basis sowie Erhebungen an Wohnheimen und Gemeinschaftsunterkünften durchgeführt.

Wie ist der Zensus in Sachsen-Anhalt abgelaufen?

In Sachsen-Anhalt wurden rund 260.000 Menschen durch eine sogenannte Haushaltsbefragung interviewt. Das entspricht gut zehn Prozent der Bevölkerung. Dabei ging es auch um Informationen zu Bildung und Erwerbs-Situation. Rund 2.300 Interviewerinnen und Interviewer haben in den 38 kommunalen Erhebungsstellen daran mitgearbeitet.

Was bedeuten die Zensus-Zahlen?

Die Zensus-Daten sind vor allem Grundlage für Ausgleichszahlungen. Sie bestimmen, wie viel Geld Städte und Gemeinden in Zukunft durch den Länder- sowie den kommunalen Finanzausgleich und durch EU-Fördermittel zugewiesen bekommen. Auch die Einteilung der Wahlkreise und die Stimmen-Verteilung im Bundesrat orientieren sich an der per Zensus ermittelten Einwohnerzahl. Für die Jahre 2022 und 2023 werden die neuen Zensus-Ergebnisse zu einem Drittel und dann zu zwei Dritteln angewendet. Je nach Einwohner-Entwicklung erhöhen sich also für Kommunen und Länder schrittweise die fälligen Nachzahlungen beziehungsweise zustehenden Nachschläge.

Was bringt der Zensus Sachsen-Anhalt?

Der Zensus bescheinigt Sachsen-Anhalt einen Bevölkerungsschwund von 1,8 Prozent – also rund 40.000 Einwohnern. Das bedeutet Mindereinnahmen über den Finanzausgleich ab 2025 von etwa 15 Millionen bis 25 Millionen Euro. Für den Landeshaushalt hat so eine Schwankung nach Angaben des Finanzministeriums keine Auswirkung. Jedoch ändert sich die Verteilung der Mittel für die Kommunen.

Wie sieht es in anderen Ländern aus?

Gravierender sind die Auswirkungen beispielsweise für das Land Berlin. Wegen des errechneten erheblichen Rückgangs der Bevölkerung werden dort bis 2028 bis zu 550 Millionen Euro Mindereinnahmen ein. Hamburg rechnet mit 190 Millionen Euro jährlich weniger, Mecklenburg-Vorpommern mit 180 Millionen Euro. Einen statistischen Bevölkerungszuwachs und damit Steuer-Mehreinnahmen haben hingegen das Saarland sowie die Hansestadt Bremen. Auch Thüringen wird mehr Geld über den Länderfinanzausgleich erhalten, da der dort errechnete Bevölkerungsrückgang noch unter dem Bundesdurchschnitt liegt.

Ist der Zensus rechts-sicher?

Das Register-gestützte Verfahren wurde erstmals beim Zensus 2011 genutzt und nun beim Zensus 2022 wieder herangezogen. Die Umstellung auf diese Methode landete seinerzeit vor Gericht: Berlin und Hamburg als große Einwohner- und Geld-Verlierer klagten. Sie kritisierten, dass sich mit einer Haushalts-Stichprobe von zehn Prozent die Einwohnerzahl nicht ausreichend präzise hochrechnen lasse. Doch – entschied das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom 19. September 2018.

MDR (Marc Weyrich, Fabienne von der Eltz) | Zuerst veröffentlicht am 29.10.2024