Arbeitstherapeut Marcus Günter in der Werkstatt

Sachsen-Anhalt Klinikum Bergmannstrost in Halle: Schritt für Schritt zurück ins Leben

Stand: 04.09.2024 15:55 Uhr

Das BG Klinikum Bergmannstrost in Halle blickt auf eine lange und beeindruckende Geschichte zurück. 1894 als zweites Unfallkrankenhaus der Welt eröffnet, gilt hier bis heute der Grundsatz, Patienten wieder fit für ein selbstbestimmtes und berufstätiges Leben zu machen, statt sie in den Ruhestand zu schicken.

Von Tom Kühne, MDR SACHSEN-ANHALT

Im Jahr 2015 gehört die Leichtathletin Anja Adler in Deutschland zu den Top Ten im 20-Kilometer-Gehen, einer olympischen Disziplin. Sport ist die große Leidenschaft der damals 25-jährigen Geologin. Dann war der Sonntag im Mai 2015, der ihr Leben völlig verändert. Bei einer Exkursion in ein stillgelegtes Bergwerk stürzt sie in einen ungesicherten Schacht und muss von Bergwacht und Feuerwehr geborgen werden. Nach einer Notoperation in Nordhausen wird sie in das BG Klinikum Bergmannstrost verlegt, das größte berufsgenossenschaftliche Unfallkrankenhaus in Mitteldeutschland. Dort erhält sie die schreckliche Diagnose: Querschnittlähmung.

Anja Adler mit Schwester Sarina auf der Rückenmarkstation

Anja Adler mit Schwester Sarina auf der Rückenmarkstation

"Ich war ja einige Monate im Bergmannstrost, da habe ich viele Patienten kennengelernt und für viele war die Querschnittlähmung eigentlich das Ende, wo ich dann immer gedacht habe, man darf nicht schauen, was geht nicht mehr, sondern was geht noch und darauf muss man sich konzentrieren", erinnert sich Adler an die Zeit in der Klinik. Bis heute ist die Rehabilitation neben der Akutmedizin eines der beiden Standbeine der berufsgenossenschaftlichen Unfallklinik. Von der Aufnahme bis zur Entlassung und oft darüber hinaus werden die Patienten von einem Team spezialisierter Therapeuten begleitet, die sie auf das Leben nach dem Unfall vorbereiten.

Eine Herausforderung: Alles neu lernen

Auch Adler muss im Zentrum für Rückenmarkverletzte des Klinikums mit Hilfe von Ergo- und Physiotherapeuten alles neu lernen: den Alltag im Rollstuhl, das Anziehen, das Kochen in einer speziellen Übungsküche oder das Fahren mit einem umgebauten Auto, weil sie mit ihren gelähmten Beinen nicht mehr Gas geben und bremsen konnte. "In den ersten Wochen wollte ich so schnell wie möglich wieder weg. Aber je mehr ich über meine Diagnose erfahren habe, je mehr Therapien ich gemacht habe, desto mehr habe ich gemerkt, das ist das, was mich weiterbringt, was mir hilft, mein weiteres Leben zu gestalten. Und so ist die Klinik nach und nach ein Stück Heimat geworden, um mich in meinem neuen Alltag zurechtzufinden", erzählt Adler.

Im Unfallkrankenhaus lernt Adler durch ihre Therapeuten den Kanusport als Alternative zum Gehen kennen. Sie hat wieder sportliche Ziele und das hilft ihr auch über seelische Tiefs hinweg. Sie beginnt zu trainieren und wird dabei vom Bergmannstrost unterstützt. 2017 gewinnt Adler zwei Goldmedaillen bei den Deutschen Meisterschaften im Para-Kanu. Im selben Jahr wird sie in die deutsche Nationalmannschaft berufen. Inzwischen ist die mehrfache Deutsche Meisterin und Weltcupsiegerin bei ihren zweiten Paralympics in Paris angekommen. "Das Schöne am Bergmannstrost ist, dass die Therapeuten, die Ärzte, die Krankenschwestern einen nicht mental so tief fallen lassen, sondern gleich sagen, das ist die Perspektive! Das ist ein ständiger Prozess, man lernt immer dazu, wie jeder Mensch im Laufe seines Lebens lernt, und jetzt lerne ich eben durch den Sport wieder etwas dazu."

Ein Ziel: Arbeitsfähigkeit wieder herstellen

Tobias Tröschel aus Thüringen muss nach einem Unfall wieder lernen, mit seinen Händen zu arbeiten. Der Monteur für Brandschutzanlagen pendelt jede Woche mit dem Motorrad zu seinem Arbeitgeber nach Baden-Württemberg – bis zu jenem Montag im Juli 2023, als er an einer Autobahnauffahrt einen Lkw übersieht. Jetzt, einige Monate später, ist er zu einer speziellen Therapie im BG Klinikum Bergmannstrost. Damit er bald wieder an seinen Arbeitsplatz zurückkehren kann, soll er eine so genannte Tätigkeitsorientierte Rehabilitation (TOR) absolvieren.

Die Reha von Tröschel begleitet der Arbeitstherapeut Marcus Günther: "Ziel der Rehabilitation ist die Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit des Patienten. Tobias soll im besten Fall wieder körperlich in der Lage sein, an seinen Arbeitsplatz zurückzukehren, mit allem, was dort wichtig ist. Viele Patienten kommen auch mit Amputationen, weil sie mit den Fingern in ein Sägeblatt geraten sind. Das ist für die meisten auch psychisch ein sehr tiefer Einschnitt und wir wollen ihnen hier natürlich die Hilfe geben, auch wieder an ihren Arbeitsplatz zurückkehren zu können."

Reha ist eine Teamveranstaltung und fordert Kreativität

Die Tätigkeitsorientierte Rehabilitation gibt es nur in berufsgenossenschaftlichen Unfallkliniken wie dem Bergmannstrost, weil sie sehr zeit- und kostenintensiv ist. Reha-Ärzte und Therapeuten prüfen im Team, was die Patienten tatsächlich noch leisten können und erstellen dann für jeden einen individuellen Therapieplan. Vier Wochen lang absolviert Tröschel die stationäre Reha mit täglich vier bis sechs Stunden Arbeitstherapie und begleitender Physio-, Sport- oder Ergotherapie. Los geht es meist um 7:30 Uhr in den klinikeigenen Werkstätten, am Übungs-Truck oder auf einer speziell dafür zur Verfügung stehenden kleinen Baustelle auf dem Klinikgelände. An verschiedenen Modellarbeitsplätzen können bis zu 60 Berufe realitätsnah trainiert werden.

"In Deutschland gibt es 324 Ausbildungsberufe und die haben wir noch nicht alle hier gehabt, aber viele. Als Arbeitstherapeut muss man kreativ sein und schauen, welche Parameter sind in dem konkreten Beruf des Patienten wichtig und wie können wir das darstellen. Eine Patientin hat z.B. im Melkstand gearbeitet und hat gesagt, ich bringe den Melkschemel zum Üben mit. Die Patienten müssen also auch selbst kreativ werden, damit wir am Ende die Leute wieder fit machen können", sagt Arbeitstherapeut Günther.

Verabschiedung von Anja Adler zu den Paralympics

Verabschiedung von Anja Adler im Klinikum Bergmannstrost zu den Paralympics

Dank der Arbeit von vielen Therapeuten, Ärzten und Pflegekräften im Bergmannstrost können Patienten wieder ein selbstbestimmtes Leben führen und sogar in ihrem alten Beruf arbeiten. Monteur Tröschel hat durch die Reha eine Verbesserung seiner Beweglichkeit erzielt, und Kanutin Adler kämpft zum zweiten Mal in ihrer Sportlerkarriere bei den Paralympics um Medaillen. "Das soll auch ein Zeichen nach außen sein, egal was im Leben passiert, es lohnt sich wieder aufzustehen, es lohnt sich weiterzumachen, denn wo sich eine Tür schließt, öffnet sich eine andere! Man muss nur den Mut haben, sie einzutreten, und sei es mit aller Kraft, dann kann etwas daraus werden", so Sportlerin Adler.

MDR (Tom Kühne, Hannes Leonard) | Erstmals veröffentlicht am 03.09.2024