Sachsen-Anhalt Nachwende-Generation: Das "Ostdeutsche" ist vielfältig, der Westen sieht es nur nicht
Die Generation Z ist die erste Nachwendegeneration. Miterlebt haben sie die DDR nicht. Und dennoch identifizieren sich viele im Osten geborene als "ostdeutsch". Daniel Kubiak von der Humboldt-Universität in Berlin erklärt im Interview mit MDR SACHSEN-ANHALT, wie die ostdeutsche Identität bei der jungen Generation entsteht und welche Rolle Jägerschnitzel, Plattenbau und Dialekt dabei spielen.
Herr Kubiak, wie unterscheiden Sie, wer ost- oder westdeutsch ist?
Daniel Kubiak: Das Jägerschnitzel. Wenn man fragt "Was ist ein Jägerschnitzel?" und ein Westdeutscher nicht weiß, dass Jägerschnitzel in Ostdeutschland panierte Wurst mit Nudeln und Tomatensoße ist, dann kann er den Ostdeutschen gar nicht imitieren. Ostdeutsche hingegen wissen durchaus, dass das Schnitzel im Westen mit Pilzrahmsoße kommt.
Daniel Kubiak arbeitet am Institut für Sozialwissenschaften der Humboldt-Universität Berlin. Sein Sachgebiet: empirische Integrations- und Migrationsforschung. Er befasst sich vor allem mit der Sozialstruktur in den neuen Bundesländern, zudem mit Identitätsbildung, Erinnerungspolitik, Geschlechterverhältnissen und Demokratieforschung.
Neben dem Jägerschnitzel kommen auch andere Klischees wie der Plattenbau oder die Simson auf, wenn über den Osten geredet wird. Wie geht die Nachwendegeneration Gen Z damit um?
Wenn man als Teil der Generation Z im Osten aufgewachsen ist, gab es natürlich bestimmte Sachen, die einen prägen wie Dialekte, möglicherweise die Plattenbauten, aber auch Eltern. In meiner Forschung habe ich herausgefunden, dass da eine ambivalente Solidarität besteht. Die nachwendegeborene Generation weiß, da war ein harter Bruch in der Biografie ihrer Eltern, verbunden mit Unsicherheiten, mit Risiken, mit prekären Lebenssituationen, der auch ihre Kindheit beeinflusst hat.
Sie grenzen sich aber auch ab, wenn ihre Eltern ostalgisch werden, wollen nicht das Früher wieder, sondern in der pluralen Demokratie leben. Trotzdem fühlen sich die Leute der Gen Z immer noch als ostdeutsch, weil sie auf einen Diskurs reagieren, der das Ostdeutsche herstellt.
Hier können Sie sich die aufgezeichnete Diskussion auf Instagram anschauen, in der es darum geht, ob Ost/West heutzutage überhaupt noch ein Thema ist:
Was ist "das Ostdeutsche"?
Wenn Leute sagen, ich bin ostdeutsch und deswegen fahre ich Simson und liebe meinen Plattenbau und höre Finch Asozial, dann ist es eine Selbstbeschreibung. Identität ist aber immer eine Interaktion aus der Selbst- und Fremdzuschreibung. Und im Diskurs über Ostdeutsche wird oft über "die Ostdeutschen" gesprochen, also eine homogene Gruppe und dann meistens auch negativ.
Beispielsweise bei den drei Landtagswahlen in Thüringen, Brandenburg und in Sachsen. Da sind es die "Ostwahlen". Oder auch beim Fußball. Es gab den Fall: Pokalspiel Dynamo Dresden gegen Borussia Dortmund. Da ging es für Fußballverhältnisse gut ab. Es gab viel Pyrotechnik, einige Prügeleien unter den Fans. Und dann gab es einen Bericht: "Dynamo Dresden, Ganz schlimmer Verein, schlimme Fanszene". Danach wurde in dieser Sportschau umgeschaltet zum nächsten Pokalspiel bei Eintracht Frankfurt. Das erste Bild war eine ganze Frankfurter Kurve voll mit Pyro und es beginnt mit "super Stimmung hier in Frankfurt".
Pyrotechnik in der Fankurve von Dynamo Dresden: Es macht einen Unterschied, ob der Verein aus Ost- oder Westdeutschland kommt.
Also ist Ost-Identität nur ein Konstrukt, das so geschaffen wurde?
Meine eigentliche Antwort ist immer die Aushandlung zwischen Selbst- und Fremdzuschreibung. Natürlich gibt bestimmte kulturelle Eigenheiten: in Thüringen ist es die Bratwurst, in Mecklenburg-Vorpommern ist es der Fisch, in Brandenburg sind es die Seen und die Wälder. Und das prägt natürlich alles, aber diese typisch ostdeutschen Sachen gibt es nur in der Fremdzuschreibung. In der Selbstbeschreibung ist das "Ostdeutsche" sehr vielfältig.
Vielfältig – das sind eigentlich auch die Dialekte in Ostdeutschland. In Recherchen zu der MDR-Serie und dem gleichnamigen Podcast "Generation Grenzenlos" haben junge Leute erzählt, dass sie sich für ihren Dialekt schämen. Wie kommt das?
Sonderbar ist erst einmal, dass der sächsische Dialekt immer zu dem ostdeutschen Dialekt gemacht wird. Von den 16 Millionen Ostdeutschen sind vier Millionen Sachsen. Da gibt es also noch zwölf Millionen andere. Warum aber Dialekt, übrigens nicht nur der sächsische, als "dümmlich" angesehen wird, das hat viel eher etwas mit Habitus zu tun.
Der Soziologe Pierre Bourdieu hat beispielsweise festgestellt: In Frankreich, wenn du in der Elite in Paris bist, sprichst du Hochfranzösisch, sprichst du keinen Dialekt, den musst du dir abtrainieren, damit du dort anerkannt wirst. Und ich glaube, das ist in Deutschland ganz ähnlich. Auch bei mir. Eigentlich habe ich einen relativ starken berlinerischen Dialekt. In der Hochschule versuche ich aber, Hochdeutsch zu sprechen. Das ist dieses: Arbeiterschicht spricht Dialekt und gehobene Schicht spricht keinen Dialekt. Das müsste man vielleicht auch mal durchbrechen.
Hat denn jemand aus der Gen Z im Osten gerade die gleichen Chancen wie jemand aus dem Westen?
Wenn man sich nur Ost-West anguckt, dann wäre die Antwort: Nein. Egal, welche sozioökonomischen Zahlen man nimmt, es gibt die Unterschiede beim Einkommen, beim Erbe, beim Vermögen. Die Gen Z ist im Osten also tendenziell in einer Familie aufwachsen, die weniger Vermögen hat, wo weniger vererbt wird und damit leben muss, dass die guten Jobs nicht in der Nähe liegen, sondern eher woanders.
Ostdeutsche sind trotz harter Arbeit im Kapitalismus noch nicht auf West-Niveau angekommen. (Symbolbild)
Vollzeitbeschäftigte in Ostdeutschland verdienten 2023 durchschnittlich 824 Euro brutto pro Monat weniger Lohn als im Westen. Die durchschnittliche Erbschaft beträgt im Osten Deutschlands rund 52.000 Euro, im Westen liegt sie dagegen bei 92.000 Euro.
Und in Zukunft?
Es tut sich etwas auf. Natürlich wird Ostdeutschland in den nächsten 50 Jahren kein vergleichbares Bruttoinlandsprodukt haben wie das Rhein-Main-Gebiet, aber es ist auch nicht so, dass die Ostdeutschen bewusst benachteiligt werden. Die "Westdeutschen" haben nur einfach 40 Jahre länger im Kapitalismus gelebt und hatten damit auch 40 Jahre mehr Zeit, Vermögen zu produzieren. Ich glaube, was die entscheidende Frage sein wird, ist, ob man die Chancen der Lebensverhältnisse so herstellt, dass in 40 Jahren auch im Osten gut vererbt werden kann.
Das Gespräch führte Mark Zimmer.
MDR (Cynthia Seidel)