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Interview

Stasi-Unterlagen-Behörde "Wir geben nicht auf"

Stand: 15.01.2020 18:06 Uhr

Vor 30 Jahren stürmten DDR-Bürger die Stasi-Zentrale und verhinderten die Vernichtung von Akten. Viele geschredderte Dokumente müssen aber wiederhergestellt werden. Warum das weiter wichtig ist, erklärt der Chef der Stasi-Unterlagen-Behörde, Jahn.

tagesschau24: Heute jährt sich der Tag, an dem die Vernichtung der Akten in der Stasi-Zentrale in Berlin verhindert wurde. 111 Kilometer Akten konnten gesichert werden, aber einiges war bereits zerrissen. Was ist mit dem Material passiert?

Roland Jahn: Wichtig ist, dass an diesem Tag die Voraussetzungen dafür geschaffen worden sind, dass wir diese Akten heute nutzen können. Aber es sind halt auch 15.000 Säcke zerrissener Akten. Die gilt es wieder Schritt für Schritt zusammenzusetzen. Denn wir wollen nicht, dass die Stasi bestimmt, was die Bürgerinnen und Bürger lesen können und was nicht. Auch diese Dokumente werden gebraucht, zum Beispiel für die Rehabilitierung von Opfern. Und deswegen geben wir nicht auf und versuchen weiter, dieses Material in das Archiv einzuordnen.

tagesschau24: Wie viele Inhalte der 15.000 Säcke konnten denn wiederhergestellt werden? Und gibt es da ein Hauptaugenmerk?

Jahn: Schritt für Schritt werden diese Unterlagen erschlossen, gerade weil auch Forschung und Medien dieser Akt nutzen wollen. Auch die nächsten Generationen wollen in diese Akten hineinschauen. Deshalb müssen wir die Voraussetzungen für ein modernes Archiv schaffen. Wir wollen auch die Digitalisierung in den nächsten Jahren voranbringen und diese Akten der Gesellschaft weiter zur Verfügung stellen.

tagesschau24: Stichwort Digitalisierung: Die meisten Akten werden per Hand wiederhergestellt, aber es gab auch mal eine computergestützte Wiederherstellung. Die ist vor zwei Jahren eingestellt worden. Warum?

Jahn: Die Probleme bereitet die Technik, das heißt, die Scanner haben noch nicht die Qualität und die Möglichkeiten, die Sachen zu digitalisieren. Sie sind noch nicht in dem Maße entwickelt, dass es massenweise stattfinden kann. Und deswegen ist das unterbrochen worden. Aber wir geben nicht auf.

tagesschau24: Nun droht ja auch der Zahn der Zeit und vielleicht einen Zerfall der Akten?

Jahn: Das ist immer mit einzubeziehen. Papier wird über die Jahre schlechter, gerade auch dieses Papier, das in der DDR da benutzt worden ist. Und deswegen ist es wichtig, dass wir dafür sorgen, dass wir einerseits die Digitalisierung für die Nutzung weiterentwickeln, aber auch die Digitalisierung für die Bestandserhaltung der Informationen. Wir wollen, dass auch die nächsten Generationen damit arbeiten können.

tagesschau24: Lassen Sie uns auf die Arbeit ihrer Behörde kommen. Wie viele Anträge wurden inzwischen auf Einsicht in die Akten gestellt?

Jahn: Sieben Millionen Anträge zur Nutzung dieser Unterlagen wurden gestellt. Es gibt Anfragen auf persönliche Akteneinsicht, aber auch viele öffentliche Stellen, die Anfragen an uns richten. Denken Sie an die vielen Überprüfung auch im öffentlichen Dienst oder in den Parlamenten auf Stasi-Tätigkeiten. Und auch Forschung und Medien stellen immer wieder Anträge, um über die Diktatur in der DDR aufzuklären.

Drei Millionen Anträge waren zur persönlichen Akteneinsicht. Und wir stellen fest, dass das 2019 sogar wieder gestiegen ist, weil zum Beispiel 17 Prozent der Erstanträge Angehörige von Verstorbenen stellen. Das heißt, dass auch die nächste Generation interessiert ist: Wie hat die Stasi, wie hat die SED in das Leben der Familie eingegriffen?

tagesschau24: Vielleicht eine Zahl dazu? Wie oft wird heute noch nachgefragt?

Jahn: Im letzten Jahr waren es 56.000 Anträge bei der Bürgereinsicht. Es waren über 1400 Anträge dort bei Forschung und Medien. Das heißt, es ist noch einiges zu tun ist.

tagesschau24: Nun stehen ja Veränderungen an. Was wird in Zukunft mit dem Stasi-Archiv passieren?

Jahn: Wir haben dieses Jahr die Weichen gestellt. Wir haben ein Konzept erarbeitet, gemeinsam mit dem Bundesarchiv, und der Bundestag hat im September beschlossen, das Stasi-Unterlagenarchiv wird Teil des Gedächtnisses der Nation, sprich des Bundesarchivs, um hier die Kompetenzen, die Technik und die Ressourcen zu bündeln.

Und was wichtig ist, dass auch der Blick erweitert wird. Dass man sich nicht nur auf die Stasi fixiert, sondern die SED-Diktatur Insgesamt betrachtet. Auch der Alltag in der DDR besser beleuchtet werden kann. Das ist ganz wichtig, um auch ein differenziertes Bild der DDR-Geschichte zu zeichnen und damit die Voraussetzungen zu schaffen, dass wirklich auch die nächsten Jahrzehnte diese Stasi-Unterlagen genutzt werden können.

tagesschau24: Das heißt also, der Bürger kann nach wie vor Einsicht nehmen?

Jahn: Ja, das ist ein ganz wichtiger Punkt: Das Stasi-Unterlagengesetz wird weiter gelten. Das heißt, die rechtlichen Zugangsmöglichkeiten werden weiter bestehen und für die Bürgerinnen und Bürger sind die Voraussetzungen gegeben, dass sie auch in den nächsten Jahren und Jahrzehnten dieses Archiv nutzen können.

tagesschau24: Vielleicht hat eine ganz persönliche Frage an Sie: Hat sich der Aufwand aus ihrer Sicht gelohnt? Es gibt und gab ja Stimmen, die Vergangenheit endlich ruhen zu lassen.

Jahn: Wenn ich mit Opfern spreche, gerade wenn ich die Opferverbände besuche, da zeigt sich immer wieder, wie wichtig es war, dass die Menschen in die Akten schauen können. Wir saßen gerade zusammen mit dem Bundespräsidenten und vielen Schülern hier aus Berlin - und da hat sich auch wieder gezeigt, wie wichtig es ist, dass die nächste Generation die Möglichkeit hat, diese Akte zu nutzen. Ich glaube, den Opfern gerecht zu werden und die Brücke in die nächste Generation zu schlagen, das ist die Arbeit für die nächsten Jahre.

Das tagesschau24-Interview führte Jan Hofer. Es wurde für die schriftliche Fassung redigiert und gekürzt.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete tagesschau24 am 15. Januar 2020 um 15:00 Uhr.