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Urteil des BVerfG Zählt allein das Recht des Stärkeren?

Stand: 11.07.2017 03:41 Uhr

Mit Lokführer- oder Pilotenstreiks konnten kleine Spartengewerkschaften ganze Betriebe lahmlegen. Das Tarifeinheitsgesetz begrenzt den Einfluss dieser Gewerkschaften nun. Dazu hat nun das Bundesverfassungsgericht eine Entscheidung gefällt.

Von Frank Bräutigam, ARD-Rechtsredaktion und Timo Conraths, SWR

Welche Regeln galten vor dem Tarifeinheitsgesetz?

Ausgefallene Züge, Menschenmassen am Bahnsteig. Der Streik der Gewerkschaft Deutscher Lokführer (GDL) brachte im Jahr 2015 monatelang einen großen Teil des deutschen Zugverkehrs zum Erliegen. Viele fragten sich: Wie kann eine so kleine Spartengewerkschaft so viel Einfluss haben?

Möglich machte das die sogenannte "Tarifpluralität". Gab es in einem Betrieb mehrere Tarifverträge für eine Berufsgruppe, so galten die Tarifverträge der verschiedenen Gewerkschaften einfach nebeneinander. Das heißt, dass für jeden Arbeitnehmer der Tarifvertrag galt, den seine Gewerkschaft für ihn ausgehandelt hatte.

Mögliche Folge war, dass es für ein und dieselbe Berufsgruppe unterschiedliche Arbeitsbedingungen im Betrieb gab - je nachdem, welcher Gewerkschaft er angehörte. Die Tarifpluralität gab außerdem kleinen Gewerkschaften, die nur eine bestimmte, aber für den Betrieb wichtige Berufsgruppe vertreten, einen enormen Einfluss. Denn ohne streikende Lokführer fährt kein Zug, auch wenn alle anderen Berufsgruppen arbeiten.

Was regelt das Tarifeinheitsgesetz?

Das im Jahr 2015 in Kraft getretene Gesetz soll in Betrieben die sogenannte "Tarifeinheit" herstellen, nach dem Grundsatz "Ein Betrieb - ein Tarifvertrag". Das Gesetz greift dann, wenn in einem Betrieb die Mitglieder einer Berufsgruppe - etwa Lokführer, Ärzte oder Piloten - in verschiedenen Gewerkschaften sind.

Können sich diese nicht auf einen einheitlichen Tarifvertrag mit dem Betrieb einigen, gilt am Ende nur der Tarifvertrag der Gewerkschaft, die insgesamt im Unternehmen die meisten Mitglieder hat. Die kleinere Gewerkschaft hat das Nachsehen. Ihr Tarifvertrag wird in dem Bereich verdrängt, in dem sich die Tarifverträge überschneiden. Ihr bleibt damit nur noch, ihre Tarifbedingungen in diesem Bereich an die der großen Gewerkschaft anzupassen.

Was sagen die Befürworter, was die Kritiker?

Nach Ansicht der Bundesregierung sorgt die Neuregelung vor allem für den Betriebsfrieden. Es gibt keine unterschiedlichen Bedingungen mehr für die gleiche Berufsgruppe, keine Konkurrenz zwischen den Gewerkschaften. Stattdessen bestehen einheitliche Verhältnisse und Anreize zur Kooperation.

Kritiker sehen in dem Gesetz hingegen den Versuch, einflussreiche Spartengewerkschaften wie die Gewerkschaft Deutscher Lokführer (GDL) oder die Pilotengewerkschaft Vereinigung Cockpit quasi mundtot zu machen. Sie sollen im Betrieb nichts mehr zu sagen haben und deshalb auch nicht mehr zu Streiks aufrufen dürfen.

Ein Bahn-Mitarbeiter gibt auf einem Bahnsteig ein Zeichen.

Streik der GDL im Oktober 2014.

Wer hat geklagt?

Insgesamt zehn Gewerkschaften plus eine Privatperson legten gegen das Gesetz Verfassungsbeschwerde ein. Fünf davon verhandelte das Verfassungsgericht beispielhaft. Das sind die Dienstleistungsgewerkschaft ver.di, der Beamtenbund, die Ärztegewerkschaft Marburger Bund, die Pilotengewerkschaft Vereinigung Cockpit und die Flugbegleitergewerkschaft Ufo. Sie alle halten das Tarifeinheitsgesetz für verfassungswidrig. Es verstoße gegen das in Artikel 9 Absatz 3 Grundgesetz verankerte Recht, Gewerkschaften zu bilden und damit für Arbeitnehmerrechte zu streiten.

Wenn der ausgehandelte Tarifvertrag ohnehin durch die Regelung der größeren Gewerkschaft verdrängt wird, habe ihr Recht, Tarifverträge mit dem Arbeitgeber abzuschließen, keinen Wert mehr, so die Gewerkschaften. Für Mitglieder werde die kleine Gewerkschaft dadurch unattraktiv. Mehr und mehr Mitglieder würden zur großen Gewerkschaft abwandern. Für die "Kleinen" gehe es daher um alles oder nichts. Sie argumentieren: Wenn wir keinen eigenen Tarifvertrag mehr bieten können, müssen wir uns langfristig auflösen.

Was hat das mit den Streiks zu tun?

Artikel 9 Absatz 3 des Grundgesetzes (GG) regelt nicht nur, dass jeder Arbeitnehmer eine eigene Gewerkschaft gründen, einer Gewerkschaft beitreten oder in ihr für bessere Arbeitsbedingungen kämpfen darf. Er schützt auch die Gewerkschaften selbst. Das wichtigste Recht von Gewerkschaften ist, Tarifverträge mit den Arbeitgebern abschließen zu dürfen - und dafür einen Streik auszurufen. Viele kleine Gewerkschaften befürchten nun, diese Rechte nicht mehr wahrnehmen zu können.

Indirekt geht es auch um ihr Streikrecht. Das Bundesarbeitsgericht erlaubt Streiks nämlich nur dann, wenn sie "verhältnismäßig" sind. Die Befürchtung: Wenn der Tarifvertrag der kleineren Gewerkschaft am Ende verdrängt würde, dann wäre es auch nicht verhältnismäßig, dafür zu streiken und im Zweifel den ganzen Betrieb lahmzulegen. Der Streik könnte deshalb gerichtlich verboten werden. Die kleinen Gewerkschaften fürchten daher um den Kernbereich ihrer Arbeit.

Demonstrierende Piloten vor der Lufthansa-Zentrale in Frankfurt am Main

Streik der Piloten der Lufthansa im Jahr 2014.

Was entschied Bundesverfassungsgericht bislang dazu?

Nicht viel. Zum Auftakt der mündlichen Verhandlung im Januar betonte der Vorsitzende des Ersten Senats, Ferdinand Kirchhof, dass die Rechtsmaterie auch für das Gericht "Neuland" sei. Bislang habe sich der Gesetzgeber immer sehr zurückgehalten, so der Verfassungsrichter. Aus diesem Grund setzte der Senat im Januar gleich zwei Verhandlungstage an.

Die Richterinnen und Richter hatten etliche Fragen an die Betyeiligten, wie das Tarifeinheitsgesetz denn zu verstehen sei. Das liegt auch daran, dass es bislang keinen Anwendungsfall des Gesetzes gab. Die GDL verständigte sich mit der Bahn sogar darauf, von dem Gesetz bis zum Jahr 2020 keinen Gebrauch zu machen. Auch im Eilverfahren, welches einige der Gewerkschaften parallel zu ihrer Verfassungsbeschwerde eingeleitet hatten, haben die Richter keine klare Tendenz durchblicken lassen.

Zwar lehnten sie den Eilantrag, mit denen einige der Spartengewerkschaften das Gesetz vorläufig außer Kraft setzen wollten, im Oktober 2015 ab. Hierbei ging es aber in erster Linie nur um die Folgen, die ein vorläufiger Stopp des Gesetzes für die Beteiligten gehabt hätte und nicht um die Erfolgsaussichten der Verfassungsbeschwerde selbst.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete die tagesschau am 11. Juli 2017 um 04:43 Uhr.