Corona-Proteste in Berlin "Verbot löst keine Probleme"
Extremismus-Expertin Manja Kasten befürchtet eine große Mobilisierung gewaltbereiter rechter Gruppen am Wochenende in Berlin. Auch ein Demo-Verbot hätte diese Gruppen nicht aufgehalten.
tagesschau.de: Wie bewerten Sie es, dass die Hauptkundgebung vielleicht doch in Berlin stattfinden kann?
Manja Kasten: Das ist jetzt zunächst die Entscheidung der ersten Instanz bezüglich einer der Versammlungen. Es bleibt abzuwarten, wie weiter entschieden wird. Aber wie wir stets betonen, ist die Diskussion um die Versammlungsverbote eine juristische. Anlass für die Debatte war ja, dass die Veranstalter schon nicht auf das Einhalten der Abstandsregeln oder auf das Tragen einer Maske auch nur ansatzweise bei der letzten großen Anti-Corona-Demonstration am 1. August hingewirkt haben. Das Verbot der Versammlung war für uns daher nachvollziehbar. Klar ist aber auch, dass sich die Probleme nicht durch ein Verbot hätten lösen lassen. Es gibt unabhängig davon eine sehr große Mobilisierung an diesem Wochenende nach Berlin zu kommen.
Manja Kasten berät bei der "Mobilen Beratung gegen Rechtsextremismus" Einzelpersonen, Verbände und Initiativen im Umgang mit Rechtsextremismus, Rassismus, Antisemitismus und Rechtspopulismus. Kasten studierte Politikwissenschaften an der Freien Universität Berlin.
tagesschau.de: Wer mobilisiert dort vor allem? Wie groß ist die rechte Szene vertreten?
Kasten: Wir sehen, dass ganz verschiedene Spektren hier mobilisieren. Seit Beginn der Corona-Proteste haben wir es mit einem sehr heterogenen Milieu zu tun. Das war auch am 1. August schon so. Was sie eint sind verschwörungsideologische Einstellungen im Rahmen der Pandemie und der Ablehnung der Eindämmungsmaßnahmen. Das spricht auch verschiedene politische Lager an von eindeutig rechtsextrem bis hin zu sehr vielen Menschen, die sich selbst als demokratisch und gesellschaftskritisch verstehen. Die würden sich selbst vielleicht auch als links bezeichnen. Da ist alles dabei. Wobei sich die kritische Haltung etwas in der Ablehnung von "denen da oben", "den Politikern und Wissenschaftlern" erschöpft.
Die Aufrufe der Veranstalteten von Querdenken und 711 sind inhaltlich sehr offen, so dass man sich da leicht wiederfinden kann, wenn man eben diesen gemeinsamen Nenner teilt, die staatlichen Maßnahmen zur Corona-Bekämpfung abzulehnen.
tagesschau.de: Waren Sie bei der letzten Demo am 1. August auch vor Ort?
Kasten: Ja, wir haben da ganz unterschiedliche Menschen gesehen. Familien von Impfgegnern etwa oder auch Esoteriker. Inzwischen besteht ein großes Gemeinschaftsgefühl unter den Teilnehmern. Was wir auch gesehen haben ist, dass die Veranstalter offenbar kein Problem damit haben, dass bei ihnen auch Rechtsextreme mitlaufen und Teil ihres Protests werden. Das hat sich jetzt noch einmal zugespitzt.
tagesschau.de: Inwiefern?
Kasten: Wir erwarten an diesem Wochenende eine starke Mobilisierung aus dem rechten Spektrum von Reichsbürgern bis hin zu gewaltbereiten Neonazis. Die NPD und die AfD haben aufgerufen zu kommen, der Dritte Weg, die Identitären. Es würde lange dauern, alle aufzuzählen. Die haben lange auf eine Gelegenheit gewartet, wieder in Erscheinung zu treten. Das ist eine gefährliche Mischung, die wir da am Wochenende in der Stadt haben.
tagesschau.de: Wie hoch schätzen Sie das Gewaltpotential der Demonstrierenden ein?
Kasten: Sämtliche rechtsextreme Spektren aus ganz Deutschland und sogar aus Nachbarländern wollen anreisen. Schon im Frühjahr hatten an den damals noch sogenannten Hygienedemos gewaltbereite Hooligans teilgenommen. Darauf muss sich die Polizei jetzt einstellen, um die Berliner vor dieser gewalttätigen Melange zu schützen.
tagesschau.de: Wie findet die Mobilisierung statt?
Kasten: Das läuft über viele Kanäle. Über sämtliche Social-Media-Plattformen wie Telegram. Einige führende Köpfe haben auch eine recht große Community, die sehr erfolgreiche YouTube-Kanäle betreiben.
tagesschau.de: Corona-Kritik an sich ist eigentlich kein Alleinstellungsmerkmal von Rechtsextremen. Wieso sind die dennoch bei diesen Demonstrationen so präsent?
Kasten: Es gibt diese einende Klammer der Corona-Kritik. Dazu kommt, dass die Rechtsextremen von den anderen nicht weggeschickt oder in ihre Schranken gewiesen werden. Die Meinungsfreiheit der Rechten oder Linken wird sehr stark betont. Das ist so ein verkehrtes Verständnis von Meinungsfreiheit, das auch antidemokratische, antisemitische Positionen legitimiert, so dass sich Rechtsextreme dort wohlfühlen. Auch wenn es nicht die Mehrheit etwa am ersten August war. Ich habe dort viele Reichsflaggen gesehen.
tagesschau.de: Einige Demonstranten hatten sich da doch durchaus wegen der Flaggen beschwert …
Kasten: … das waren vereinzelte Demonstranten, die keine Unterstützung der Umstehenden erhielten. Sie wurden oft von den anderen dann als "Spalter" niedergerufen. Hier könne jeder sagen, was er wolle.
tagesschau.de: Warum distanzieren sich "demokratietreue" Demonstranten Ihrer Meinung nach nicht von ihnen?
Kasten: Ich könnte nur mutmaßen, warum die sich nicht stärker distanzieren. Offenbar ist ihnen aber die gemeinsame Corona-Kritik wichtiger, als sich von menschenverachtenden Positionen zu distanzieren.
tagesschau.de: Wie könnte man die Kritiker wieder in einen gemäßigteren Diskurs einbinden?
Kasten: Diese Frage stellt sich an diesem Wochenende nicht. Darauf kann ich nur als Beraterin langfristig antworten, dass man zum Beispiel im Freundes- und Familienkreis oder am Arbeitsplatz in den Dialog kommen könnte, solange es sich noch nicht um völlig geschlossene Weltbilder beim Gegenüber handelt. Man kann sich faktenbasierte Informationen einholen und könnte sich da auch an uns als Beratungsstelle wenden. Bei den Demos auf der Straße hingegen, da kann man nur eines tun: Haltung zeigen und Position beziehen.
Das Gespräch führte Iris Marx, tagesschau.de.