Antisemitismus bei "Querdenken" NS-Relativierung verfestigt sich
Auf Demonstrationen von "Querdenkern" werden Maßnahmen gegen die Pandemie immer wieder mit dem NS-Terror gleichgesetzt. Diese Form des Antisemitismus verfestige sich, warnen Fachleute - und fordern Konsequenzen.
Corona-Proteste in Leipzig am vergangenen Wochenende: Die YouTuberin Juni M. läuft mit ihrer Kamera durch die Menge und kommentiert dabei, was sie wahrnimmt. Sie kommt in ein Zwiegespräch mit einer Reporterin eines bekannten TV-Magazins, die Aktivistin behauptet dabei, sie sei von dem Sender ntv. Die Reporterin will das nicht glauben - und fragt nach dem Presseausweis der Frau.
Doch die YouTuberin will erstmal den Presseausweis der Reporterin sehen, den diese dann gerne vorlegt. Daraufhin zieht die YouTuberin ab und schimpft vor sich hin, solche richtigen Presseausweise habe es eigentlich nur im "3. Reich" gegeben.
Kurzum: Die YouTuberin legt nahe, der heutige Presseausweis sei vergleichbar mit dem NS-Schriftleitergesetz von 1933, mit dem Journalisten ihrer Unabhängigkeit beraubt und zu Dienern des NS-Staates gemacht wurden. Als eine Lehre daraus ist der Zugang zum Journalistenberuf in der Bundesrepublik nicht reguliert. Auch für die Funktion des Redakteurs gibt es keine gesetzlichen Zugangsbeschränkungen.
Presseausweise werden von Berufsverbänden, nicht dem Staat, ausgestellt und gewähren bestimmte Privilegien, um die unabhängige Arbeit von Journalistinnen und Reportern zu gewährleisten. Die heutige freie Presse ist somit der Gegenentwurf zu den gleichgeschalteten Medien der NS-Zeit.
Es ist nur ein Beispiel von vielen, wie die heutigen Verhältnisse mit der NS-Diktatur gleichgesetzt werden: Immer wieder bezeichnen sich Personen aus dem "Querdenken"-Milieu als "Juden von heute", heften sich gelbe Sterne mit der Aufschrift "ungeimpft" an - und verharmlosen dadurch Judenverfolgung und das totalitäre Regime insgesamt.
Impfstoff als Zyklon B
Diese Sterne seien besonders perfide, betonte das Jüdische Forum für Demokratie und gegen Antisemitismus (JFDA) auf Anfrage von tagesschau.de. "Weitere negativ in Erinnerung gebliebene Beispiele waren die Gleichsetzung des ehemaligen AfD-Politikers Stefan Bauer von Impfungen mit Zyklon B, die Äußerungen Attila Hildmanns, dass das Judentum für die Pandemie und alles Übel der Welt verantwortlich sei und ein neuer Holocaust bevorstehe - oder dass der Neonazi Sven Liebich mit einem Exemplar des 'Tagebuchs der Anne Frank' am Holocaust-Mahnmal in Berlin posierte."
"Deutliche Zunahme von Shoah-Relativierungen"
Remko Leemhuis, Direktor des American Jewish Committee in Berlin, sagt im Gespräch mit tagesschau.de, "mit dem Beginn der Proteste gegen die Infektionsschutzmaßnahmen haben wir nicht nur eine deutliche Zunahme von Shoah-Relativierungen und antisemitischen Verschwörungserzählungen erlebt, sondern ebenso, dass diese sich nicht mehr alleine auf das rechtsextremistische Spektrum beschränken". Vielmehr reichten diese mittlerweile bis weit in die Mitte der Gesellschaft und würden "immer offener geäußert".
Das JFDA ist bei zahlreichen Demonstrationen vor Ort und dokumentiert die Geschehnisse. NS-Relativierungen seien bei nahezu allen Akteuren aus dem heterogenen "Querdenken"-Milieu zu beobachten, so das JFDA - sowohl von rechtsextremen und rechtspopulistischen Kreisen als auch "Freien Linken" sowie alternativ-esoterischen Milieus. "Diese Gleichsetzungen haben sich mittlerweile bei nahezu jeder Kundgebung und Demonstration sowie im Internet verfestigt." Stephan Kramer, Präsident des Thüringer Verfassungsschutzes, sagt im Gespräch mit tagesschau.de, dass die verbreitete NS-Verharmlosung im "Querdenken"-Milieu ein "deutliches Zeichen für den Einfluss und die Übernahme der Szene durch Rechtsextremisten" sei.
Immer wieder Gleichsetzungen
Michael Blume, Beauftragter des Landes Baden-Württemberg gegen Antisemitismus, betont, "ein Teil dieses Antisemitismus rührt von israelbezogenem Verschwörungsmythen, wie sie vor allem in linken und migrantischen Milieus gepflegt werden. In bürgerlichen, rechten und esoterischen Kreisen wird zudem der Holocaust kaum mehr wie früher geleugnet, sondern einer angeblichen Rothschild-Weltverschwörung zugeschrieben."
Daran anschließend deuteten "die Verschwörungsgläubigen die demokratisch beschlossenen Maßnahmen etwa gegen die Covid19-Pandemie oder gegen die Klimakrise als Fortsetzung dieser angeblichen, jüdisch gesteuerten Verschwörung und setzen sich selbst mit den realen Opfern des Holocaust gleich". Diese "digital befeuerte Verhöhnung der Verfolgten, die Verrohung und Radikalisierung geht also leider quer durch die Gesellschaft und führt auch in Deutschland zu antisemitischem Hass, nicht selten sogar zu Gewalt", warnt Blume.
Antisemitismus als "Welterklärungsmodell"
Die Amadeu Antonio Stiftung betonte zum Jahrestag der Reichspogromnacht, es bedürfe einer stärkeren öffentlichen Auseinandersetzung mit Antisemitismus und dessen Funktionsweisen. Es habe nach der Shoah (hebräisch für Holocaust) "zwar zu Recht eine große Beschäftigung damit gegeben, dass Judenfeindlichkeit zu ächten" sei, sagte die Vorsitzende der Stiftung, Anetta Kahane. Die Gesellschaft beginne jetzt aber erst, sich mit dem tieferen Konzept auseinanderzusetzen.
Antisemitismus sei eine "Kulturtechnik", erklärte Kahane. Es gehe zum Beispiel darum, Juden für Missstände verantwortlich zu machen. Antisemitismus sei anders als Rassismus ein "Welterklärungsmodell", sagte die Menschenrechtsaktivistin Düzen Tekkal. Das Gedenken dürfe sich in Deutschland nicht darin erschöpfen, dass den hierzulande getöteten Juden Empathie entgegengebracht werde.
"Die anhaltende Relativierung der Verfolgung und des Leids von NS-Opfern durch die Instrumentalisierung und den Missbrauch von Symbolen sei "verstörend und zutiefst abstoßend", meint Thüringens Verfassungsschutzpräsident Kramer. Im Gespräch mit tagesschau.de betont er: "Weder die Meinungsfreiheit noch berechtigte Kritik an politischen Entscheidungen in der Pandemie können dies irgendwie rechtfertigen." Kramer fordert eine "einhellige gesellschaftliche Reaktion - nämlich eine wehrhafte Demokratiebewegung von allen Gesellschaftsschichten getragen".
"Perfide Verhöhnung der Opfer"
Für die Überlebenden des Holocausts und deren Nachkommen sind die offenen NS-Relativierungen oft unerträglich, das Jüdische Forum für Demokratie und gegen Antisemitismus teilte dazu mit: "Es schmerzt die jüdische Community, dass die Vernichtung von sechs Millionen Jüdinnen und Juden in Zeiten des Nationalsozialismus und die Maßnahmen der Bundesregierung zur Pandemiebekämpfung als dasselbe angesehen werden." Es sei ist eine perfide Verhöhnung der Opfer des Nationalsozialismus.