Bellingcat Ein Geheimdienst für das Volk?
Bellingcat ist bekannt für spektakuläre Recherchen. Auch beim Tiergartenmord-Prozess in Berlin spielt die Organisation sie eine zentrale Rolle. Ihr Gründer spricht von einem Geheimdienst im Auftrag der Menschen.
Vier Verhandlungstage sind im Prozess zum Tiergartenmord am Berliner Kammergericht allein für die Erkenntnisse der Rechercheorganisation Bellingcat vorgesehen. Das ist weit mehr Zeit als für andere Aussagen, ob von Tatzeugen, Angehörigen des Opfers oder Ermittlern von Polizei, des Landeskriminalamtes Berlin oder des Bundeskriminalamtes (BKA).
Bellingcats Rechercheergebnisse kamen bereits zur Sprache, als es um die Identität des mutmaßlichen Täters ging und die Fragen, ob er im Auftrag und mit Unterstützung staatlicher Stellen in Russland handelte und ob er Komplizen hatte.
Der Mord an dem tschetschenischstämmigen Georgier im Kleinen Tiergarten ist nur ein Fall, bei dem Bellingcat die Arbeit von Ermittlungsbehörden, aber auch von klassischen Medien in den Schatten stellte.
Begonnen hatte alles um 2011 mit dem Briten Eliot Higgins, der sich für Krisen weltweit interessierte und nicht passiver Nachrichtenkonsument bleiben wollte. So beschreibt er es in seinem gerade erschienen Buch "Wir sind Bellingcat. Ein Geheimdienst für das Volk". Sein Anspruch: "Wir zeigen normalen Bürgern, wie sie Missstände aufdecken und von den Mächtigen Rechenschaft verlangen können."
Gegen Geheimniskrämerei von Staaten und Unternehmen
Vom "ersten Geheimdienst des Volkes" hatte schon Julian Assange bei der 2006 gegründeten Enthüllungsplattform WikiLeaks gesprochen. Er wollte gegen staatliche Geheimniskrämerei vorgehen, indem er Informanten eine Anlaufstelle bot. Sein radikaler Ansatz: Material ungefiltert und frei zugänglich ins Netz stellen. Seine wohl spektakulärste Aktion: 2010 präsentierte er bei einer Pressekonferenz ein Video von US-Soldaten im Irak, die aus einem Helikopter Flüchtende erschießen.
Auch Rechercheprojekte wie Panama Papers beruhen darauf, dass Whistleblower Daten aus dem Inneren von Unternehmen, privaten und staatlichen Organisationen bereitstellen. Die beteiligten Medien bereiteten die Informationen allerdings auf und recherchierten weiter. Die Veröffentlichungen führten zu Strafermittlungen und Rücktritten von Regierungsmitgliedern in mehreren Ländern.
Einen ähnlichen Ansatz wählte der russische Korruptionsbekämpfer Alexej Nawalny mit seinem Team: Auf ihrer Plattform können Bürger über Korruption berichten. Die Aktivisten recherchieren die Fälle und brachten mehrere davon vor Gericht.
Vom Hobbyrechercheur zur Konkurrenz für Geheimdienste
Bellingcat-Gründer Eliot Higgins ging anders vor. Zunächst als Hobbyrechercheur habe er in Internetforen und auf Twitter den Arabischen Frühling mit dem Aufstand auf dem Tahrir-Platz in Ägyptens Hauptstadt Kairo, den Krieg in Libyen und andere Entwicklungen verfolgt, schreibt er. Das größte Problem: Stimmten die Angaben von Aktivisten, Kämpfern und Journalisten von den Schauplätzen?
Ohne Ortskenntnisse habe er am Laptop begonnen, die Behauptungen von Kämpfern über die Einnahme von Dörfern und Städten in Libyen zu prüfen. Was er im Hintergrund ihrer Videos als Straßen, Häuser und Bäumen erkennen konnte, fügte er auf Papier zu einer Landkarte zusammen, glich diese mit Satellitenaufnahmen bei Google Maps ab und schrieb seine Erkenntnisse in die Kommentarspalten der britischen Zeitung "Guardian".
Im Laufe unzähliger Recherchen sind Higgins und andere technik- und internetaffine Enthusiasten zu Profis geworden. Dutzende Internet-Tools vereinfachen inzwischen die geografische Zuordnung von Fotos und Videos sowie die Suche nach Informationen aller Art. Wenn sie in Trainings weltweit ihre Methoden erklären, generieren sie nicht nur Einnahmen. Sie gewinnen zugleich Unterstützer mit Ortskenntnissen, die sich oft aus Rechercheleidenschaft auch auf aufwändige und zeitintensive Suchen im Netz einlassen.
Immer wieder heißt es, für Bellingcat arbeiteten Ex-Agenten oder die Organisation stehe mit britischen Nachrichtendiensten in Kontakt. Es stellt sich jedoch die Frage, ob die Rechercheorganisation im Verbund mit Partnern wie "The Insider" in Russland nicht letztlich effektiver mit offenen Quellen arbeitet - oder zumindest mehr veröffentlicht.
Geheimdienste jedenfalls haben schon immer auch öffentlich zugängliche Quellen genutzt - im Englischen Open Source Intelligence (OSINT). Mit dem Aufkommen sozialer Medien habe sich aber die Art des Informationssammelns noch einmal grundlegend verändert, sagte 2016 der Ex-Chef des US-Militärnachrichtendienstes Defence Intelligence Agency (DIA), Michael Flynn, dem US-Magazin "The Atlantic".
Dass das Internet als Quelle von Bedeutung ist, zeigen auch Ermittleraussagen und verlesene Vermerke beim Gerichtsprozess zum Tiergartenmord: Zahlreiche Informationen beruhen demnach auf Recherchen öffentlich zugänglicher Quellen.
Geheimdienste enttarnt
Mit den Worten von Higgins: "Die Unschuldigen wussten nicht, wie viel sie preisgaben. Und die Schuldigen auch nicht." Das lässt sich für die russischen Geheimdienste FSB und GRU sagen - angefangen von den Recherchen zum Fall Skripal in Großbritannien, zur Verfolgung und Vergiftung Nawalnys bis zur aktuellen Veröffentlichung über die zweimalige Vergiftung des Oppositionellen Vladimir Kara-Mursa, bei der allerdings auch das amerikanische FBI nicht gut wegkommt.
In allen Fällen gelang es Bellingcat und Mitstreitern, umfassende Bewegungsprofile mutmaßlicher Agenten zu erstellen und Vorgehensweisen bei der Schaffung von Alibi-Persönlichkeiten aufzudecken. Sie profitierten dabei von der Datensammelwut des russischen Staates und Korruption auf allen Ebenen.
So gab ein Bellingcat-Mitarbeiter zu, Daten auf einem virtuellen Markt auch gekauft zu haben. Hier stellt sich die Frage, ob solch eine Daten-Beschaffung gerechtfertigt ist bei der Aufklärung von Verbrechen, für die Unrechtsstaaten verantwortlich sind.
Eine zweite Frage ist die nach der Kooperation mit Ermittlungsbehörden, um die Ahndung von Straftaten zu ermöglichen. Diese beantwortete Bellingcat beim Tiergartenmord mit Ja. So weit ging zum Beispiel die "Süddeutsche Zeitung" bei den "Panama Papers" aus Datenschutzgründen nicht. Das BKA erwarb den Panama-Datensatz offenbar von einer anonymen Quelle.
Risiko und Glaubwürdigkeit
Was für ein Risiko die Offenlegung solcher Informationen mit sich bringt, zeigen hohe Sicherheitsvorkehrungen beim Prozess zum Tiergartenmord - und letztlich der Fall Assange, dessen Auslieferung auch die neue US-Regierung unter Joe Biden fordert. Allerdings brachte sich Assange um Sympathien auch deshalb, weil er seine Informationsmacht zuletzt in den Augen vieler einseitig gegen die USA und die Demokraten eingesetzt - und wissentlich oder unwissentlich auch Informationen aus Russland genutzt habe.
Bellingcat wiederum wird vorgeworfen, auf der Seite westlicher Regierungen gegen die Führungen von Syrien und Russland zu recherchieren. Vorwürfe der Falschinformation gibt es im Fall eines Giftgasangriffs auf die syrische Stadt Douma, auch aus dem Lager der Unterstützer von Assange.
Higgins schreibt, Glaubwürdigkeit sei entscheidend für Bellingcat. Auf deren Website sind die Finanziers offengelegt, zu denen zum Beispiel nicht der US-Thinktank Atlantic Council zähle, wie Higgins in einem Tweet erklärte - auch wenn er mit dem Atlantic Council kooperierte und dort Senior Fellow war.
So wird es auch beim Prozess zum Tiergartenmord nicht nur um die Erkenntnisse von Bellingcat, sondern sicher auch um Quellen und Finanzierung gehen. Ab Dienstag werden die Recherchen durchleuchtet.