Apfelplantage in Südtirol
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Pestizide im Obstanbau Gespritzt und "naturnah"?

Stand: 25.01.2023 05:00 Uhr

In Südtirol tobt seit Jahren eine Debatte über Pestizide. Der Streit eskalierte 2017, als Obstbauern deutsche Umweltschützer wegen übler Nachrede anzeigten. Wie viel wirklich gespritzt wurde, zeigt eine Datenanalyse.

Von Eva Achinger und Marco Lehner, BR

Die Wahrscheinlichkeit im Supermarktregal Äpfel aus Südtirol zu finden, ist hoch: Jeder zehnte Apfel in der EU kommt aus der norditalienischen Provinz. Der Großteil der Südtiroler Ernte wird nach Deutschland exportiert. Datenjournalisten des Bayerischen Rundfunks und der "Süddeutschen Zeitung" haben nun erstmals einen Einblick in Spritztagebücher von Vinschgauer Apfelbauern bekommen. Normalerweise sind diese für die Öffentlichkeit nicht einsehbar. Nur ausgewählte Kontrollstellen prüfen die Hefte, in denen jeder einzelne Spritzeinsatz aufgezeichnet wird. Und zwar sehr detailliert: welches Pestizid wird ausgebracht, wieviel davon und aus welchem Grund - all diese Informationen müssen Landwirte festhalten.

2017 im Vinschgau: 590.000 Spritzeinsätze

Datenjournalisten des BR haben nun 681 dieser Betriebshefte aus dem Jahr 2017 ausgewertet. Es geht um Betriebe aus der Region Vinschgau, die etwa die Hälfte der dortigen Anbaufläche bewirtschaften. Für ganz Südtirol sind die Ergebnisse damit nicht repräsentativ. Insgesamt sind 590.000 Pestizideinsätze in nur einer Saison dokumentiert. Die Analyse zeigt außerdem, dass zwischen März und September kein einziger Tag verging, an dem im Vinschgau nicht gespritzt wurde. Die zugelassenen Höchstmengen haben die Bauern dabei nicht überschritten. Eine durchschnittliche Apfelplantage wurde 2017 laut Betriebsheften 38 Mal mit Pestiziden behandelt.

"38 Anwendungen von Pestiziden in einer Saison sind natürlich sehr, sehr viel", sagt Ralf Schulz, Umweltwissenschaftler an der Rheinland-Pfälzischen TU Kaiserslautern-Landau. Er erforscht unter anderem, wie Pestizide unser Ökosystem beeinflussen. Das Südtiroler Apfelkonsortium, der Dachverband aller Erzeugergenossenschaften, erklärt die hohe Anzahl an Einsätzen auf BR-Anfrage so: "Anders als noch vor einigen Jahrzehnten setzen wir nur noch gezielt wirkende Mittel mit geringerer Wirkungsstärke ein." Das bedinge eine höhere Anzahl an Einsätzen, habe aber den Vorteil einer präzisen Wirkung auf den Schadorganismus, heißt es weiter. Wirkstoffe in Pestiziden seien die giftigsten Stoffe, die in der Landwirtschaft eingesetzt werden, sagt der Umweltwissenschaftler Schulz. "Und dementsprechend ist es wichtig, sich klarzumachen, welche Mengen von Pestiziden in der Landwirtschaft eingesetzt werden", so Schulz.  

Betriebshefte werden wegen "Pestizid-Prozess" öffentlich

Die Transparenz, welche Chemikalien eingesetzt werden, ist wichtig, aber nicht selbstverständlich. Dass die Daten einer breiten Öffentlichkeit zugänglich werden, ist das Ergebnis eines einmaligen Vorgangs im Jahr 2017. Das Umweltinstitut München e.V., eine Umweltschutzorganisation, startet damals eine Kampagne, um auf den intensiven Einsatz von Pestiziden im Obstanbau aufmerksam zu machen. Unter anderem hängt die Organisation an einem belebten öffentlichen Platz in München ein Plakat mit dem Schriftzug "Pestizid-Tirol" auf.

Daraufhin verklagen circa 1400 Obstbauern und der Landesrat für Landwirtschaft die Umweltaktivisten wegen übler Nachrede. Im Laufe des Südtiroler "Pestizid-Prozesses" beschlagnahmte die Staatsanwaltschaft Bozen die Spritzhefte der Bauern und übergab sie an das Umweltinstitut München. Die Datenauswertung zeigt auch, dass 2017 im Vinschgau Wirkstoffe zum Einsatz kamen, die heute so nicht mehr verwendet werden dürfen. Zum Beispiel ist das Insektizid Imidacloprid inzwischen europaweit nicht mehr zugelassen. Grund dafür ist, dass sich der Wirkstoff als sehr gefährlich für Bienen erwiesen hat.

Diese Betriebshefte offenbaren weitere Details über den Pestizideinsatz im Apfelanbau. Beispielsweise haben Bauern im Vinschgau bis zu neun verschiedene Mittel an nur einem Tag gespritzt. "Durch die Kombination der Mittel kann es zu sogenannten Cocktail-Effekten kommen", sagt Vera Baumert, die als Referentin für Landwirtschaft beim Umweltinstitut München arbeitet. Diese Effekte könnten dazu führen, dass sich die negativen Auswirkungen auf Umwelt und Gesundheit addieren und verstärken, erklärt die Umweltschützerin. Cocktail-Effekte gelten unter Experten als unzureichend erforscht. Deutsche Behörden berücksichtigen sie bei der Zulassung von Wirkstoffen erst seit 2017 bis zu einem gewissen Grad.

"100 Prozent der Südtiroler Äpfel im gesetzlichen Rahmen"

Bevor ein Pestizid zum Einsatz kommt, muss der Wirkstoff darin zugelassen werden. Seine Auswirkungen auf Mensch und Umwelt werden deshalb in zahlreichen Studien überprüft. Wird der Wirkstoff von den Behörden schließlich zugelassen, werden Rückstandshöchstmengen, die für Mensch und Umwelt als unbedenklich gelten, gesetzlich festgelegt. Laut dem Südtiroler Apfelkonsortium sind 100 Prozent der Südtiroler Äpfel im gesetzlichen Rahmen. Die gesetzlichen Rückstandshöchstmengen würden deutlich unterschritten, heißt es.

Der Großteil der Südtiroler Apfelbauern praktiziert den "integrierten" Anbau. Diese Anbauweise sei "nachhaltig" und "naturnah", schreibt die Südtiroler Arbeitsgemeinschaft für integrierten Obstanbau auf Anfrage. Gleiches steht auf mehreren Webseiten, die Südtirols Apfelwirtschaft bewerben.

Dieses Marketing steht jedoch in Widerspruch zu dem, was die Zahlen aus 2017 sagen. "Nachhaltig" sei diese Anbauweise eher in ökonomischer Hinsicht, sagt Schulz, nicht in ökologischer. Und die Begriffe "naturnah" und "chemisch-synthetische Pestizide" seien auch kaum vereinbar, meint der Umweltwissenschaftler. Es handle sich schließlich um Chemikalien, die es so in der Umwelt nicht gibt.

Pestizide als Ultima Ratio?

Der Vinschgauer Verband für Obst- und Gemüseproduzenten verteidigt die Spritzeinsätze. Bauern setzten Pflanzenschutzmittel nur dann ein, wenn es notwendig sei und Schäden an Früchten oder Bäumen zu erwarten seien. "So wenig wie möglich, lautet die Devise der Südtiroler Obstbauern", heißt es.

Der Datensatz hat erstmals einen Eindruck vermittelt, wieviel und was im Südtiroler Vinschgau gespritzt wurde. Für Obstanbaugebiete in Deutschland liegen dem BR vergleichbare Zahlen nicht vor. Aber auch hier werden häufig Pestizide eingesetzt. Für mehr Transparenz soll eine neue EU-Verordnung sorgen. Daten über Pestizideinsätze sollen ab 2028 von den Mitgliedstaaten erfasst, an die EU gemeldet und veröffentlicht werden.

Eva Achinger, BR, 25.01.2023 17:32 Uhr

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete BR24 am 25. Januar 2023 um 11:00 Uhr sowie der ARD-Podcast 11KM.