AKW Saporischschja (Aufnahme März 2023)
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Atomkraftwerke im Krieg "Verfall der Sicherheitskultur"

Stand: 23.05.2023 06:00 Uhr

Beschuss eines Atomkraftwerks, Angriffe auf das Stromnetz, Bedrohung von AKW-Mitarbeitern. Wie sicher ist die Atomkraft in der Ukraine noch und welche Folgen hätte ein Unfall?

Von Reinhart Brüning, MDR

Normalerweise herrschen in den Atomkraftwerken in der Ukraine strenge Sicherheitsvorkehrungen - doch seit dem Beginn des Krieges ist es schwierig, diese aufrecht zu erhalten. "Ich konnte mir diesen Verfall der Sicherheitskultur auf ein so niedriges Niveau nie vorstellen", sagt Petro Kotin, Chef des Staatskonzerns Energoatom, der die Atomkraftwerke in der Ukraine betreibt. "Wir hatten sechs Stromausfälle im größten Kernkraftwerk der Ukraine und auch Europas."

Es ist das AKW Saporischschja. Am 3. März 2022 - bereits kurz nach dem russischen Angriff auf die Ukraine - wurden das Kraftwerk und der Nachbarort, die Stadt Enerhodar, vom russischen Militär gestürmt. "Sie fuhren mit ihren Panzern zuerst in die Stadt. Sie schossen schon aus Panzern, aber wir hatten nichts, nur normale Gewehre", sagt Aleksandr Pintielin, der damals im AKW arbeitete. Russische Soldaten besetzten das AKW mit seinen 11.000 Mitarbeitern. Ganz in der Nähe verläuft noch heute die Front entlang des Flusses Dnepr.

Zwischendecke eines Spezialgebäudes durchlöchert

"Ich arbeitete in der Reaktorhalle im Kontrollbereich. Wir sind für die Brennstäbe zuständig", berichtet Pintielin. "Während der Arbeit hörten wir plötzlich das Geräusch eines Geschosses und zwei Sekunden später den Einschlag. Es ging durch das Dach unseres Spezialgebäudes und es durchlöcherte auch die Zwischendecke."

Einige Kollegen seien weggerannt und hätten Trümmerteile auf die Köpfe bekommen. "Wir bemerkten auch, dass eine Wand unseres Spezialgebäudes durchschossen war - da, wo die frischen Brennstäbe lagerten."

"Wenn also ein Geschoss auf dieses Material trifft, kann es zur Freisetzung von Strahlung und damit zu einer Katastrophe kommen“, sagt Energoatom-Chef Kotin MDR Investigativ. "Wenn man nur einige wenige Brennelemente beschädigt, hat das nur geringe Auswirkungen auf die Umwelt. Wird jedoch der gesamte Kern eines Reaktors beschädigt, sind die Folgen die gleichen, wie beispielsweise im Atomkraftwerk Tschernobyl."

Wolke könnte Hunderte Kilometer weit ziehen

Welche Gefahr von einem Atomkraftwerk ausgeht, hängt von der Menge an radioaktivem Material ab und der Art des Angriffs. Das AKW Saporischschja hat sechs Reaktoren. Jeder Reaktor ist mit 163 Brennelementen bestückt. Daneben gibt es immer auch ein Kühlbecken für verbrauchte Brennstäbe. Außerdem gibt es ein Trockenlager mit 174 mit Beton ummantelten Stahlbehältern mit alten Brennelementen. Insgesamt sind es 8700 Brennstäbe.

Kiew liegt vom AKW Saporischschja 500 Kilometer entfernt, Berlin 1700 Kilometer. In Deutschland wird täglich neu berechnet, wohin eine radioaktive Wolke von Saporischschja aus ziehen würde. Demnach wäre Deutschland wohl nur wenig betroffen, doch eine Wolke würde sich über Hunderte Kilometer ausbreiten - und je nach Windrichtung zahlreiche Länder im Umkreis treffen, auch Russland selbst könnte davon getroffen werden.

Im September 2022 wurden alle sechs Reaktoren des Kernkraftwerks Saporischschja abgeschaltet. "Die Anlagen sind kalt. Es ist kein Druck mehr im System", erklärt Uwe Stoll. Er ist der technisch-wissenschaftliche Geschäftsführer der Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit in Köln.

"Darüber hinaus hat die Menge der Spaltprodukte, zum Beispiel radioaktives Iod-131 oder Cäsium, stark abgenommen. Wenn man also eine Freisetzung unterstellt, würde deutlich weniger Radioaktivität in die Umwelt gelangen, als bei den Unfällen von Tschernobyl und Fukushima", so Stoll.

Gefährliche Eingriffe

Doch wie ist die Situation in Saporischschja derzeit? MDR Investigativ versuchte mit einem der Mitarbeiter zu sprechen, doch die Angst ist groß. Es gelingt ein Kontakt zu jemandem in gehobener Position - allerdings muss die Person anonym bleiben.

"Energoatom in Kiew gab den Befehl, einen Block des AKW hochzufahren. So etwas ist kein einfacher Tastendruck, sondern das Hochfahren des Reaktors ist sehr kompliziert. Am Ende dieses Vorgangs sagten die Russen plötzlich: 'Stopp! Wir haben keinen Befehl zum Hochfahren gegeben.' So mussten wir mittendrin alles Schritt für Schritt rückgängig machen. So haben sie mehrmals eingegriffen. Das ist gefährlich!"

Die Belegschaft im AKW erlebt offenbar auch Übergriffe: "Ich selbst habe keine Gewalt erfahren, zum Glück. Aber viele unserer Bekannten wurden in den Keller gebracht und verschwanden", berichtet die Person. MDR Investigativ hat mehrere Berichte über Misshandlungen im so genannten Keller bekommen, aber nicht aus erster Hand, diese können auch nicht unabhängig überprüft werden.

Meldungen von Repressionen

Inzwischen häufen sich bei Energoatom die Meldungen über Repressionen gegenüber dem Personal der AKW durch das russische Militär, sagt Konzern-Chef Kotin. Bisher seien 200 Personen gefoltert worden, 30 seien verschwunden. Er räumt jedoch ein, dass einige auch geflohen sein könnten, ohne eine Nachricht zu hinterlassen. "Wir wissen sicher, dass ein Mitarbeiter zu Tode geprügelt wurde. Eine andere Person versuchte man zu töten."

Fakt ist: Der russische Betreiberkonzern übt Druck aus, damit Beschäftigte zu ihm zu wechseln. "Am 1. Dezember haben sie meinen Betriebsausweis gesperrt, weil ich keinen russischen Vertrag unterschreiben wollte", sagt die Kontaktperson.

Seitdem werde sie von russischen Technikern vertreten, die für Saporischschja nicht ausgebildet seien. "Der Unterschied zu einem russischen Kernkraftwerk ist enorm. Deshalb brauchen sie meine Qualifikation für den Notfall und lassen mich und meine Familie nicht aus der Stadt." Bislang sei zum Glück noch kein solcher Notfall eingetreten.

Uwe Stoll von der Gesellschaft für Anlangen und Reaktorsicherheit betont, dass die Situation in Saporischschja immer noch den grundlegenden Prinzipien der Genfer Konvention widerspreche, laut der Kernkraftwerke nicht Teil kriegerischer Auseinandersetzung sein dürfen. "Neben dem Risiko einer militärischen Eskalation in dem Gebiet besorgen uns aktuell insbesondere wieder die Berichte über die angespannte Situation für die Mitarbeitenden des Kernkraftwerkes." 

Seit dem 1. September 2022 hat die internationale Atomenergiebehörde Beobachter im Atomkraftwerk. Sie stellten hinsichtlich aller Aspekte der Sicherheit Verstöße gegen Vorschriften fest. Besonders besorgt sind sie, weil das AKW durch Beschuss mehrfach die Verbindung zum Stromnetz verlor.

Stromnetz im Visier

Das Kraftwerk ist im Moment heruntergefahren und muss von außen mit Strom versorgt werden. "Sie müssen ständig Strom liefern. Dafür gibt es in jedem Kernkraftwerk Dieselgeneratoren. Wenn die Stromversorgung von außen unterbrochen wird, laufen die an und versorgen dann die Pumpen, die die Brennelemente kühlen", erklärt Energoatom-Chef Kotin. "Das ist die letzte Verteidigung des Kernkraftwerks vor der Katastrophe. Danach kommt es zur Kernschmelze in den Reaktoren."

Im Oktober 2022 nahm Russland vermehrt das Stromnetz der Ukraine ins Visier. Dabei waren Umspannwerke ein bevorzugtes Ziel. Am 23. November 2022 erfolgte der schwerste Angriff. "Die Russen wählten die Tage der Angriffe nach der Wettervorhersage aus", sagt der Geschäftsführer des Staatskonzerns Ukrenergo, Volodymyr Kudrytskyi, der für das landesweite Stromnetz verantwortlich ist.

"Sie wollten einen kompletten Stromausfall verursachen, so dass die Wasserversorgung und die Heizungssysteme einfrieren würden. Das würde zu einer unsäglichen humanitären Katastrophe führen." Hinzu käme, dass Chemiewerke explodieren könnten, zusätzlich zur Gefahr für die Atomkraftwerke.

Netzreparatur binnen Stunden

An jenem Tag im November verloren alle vier aktiven Atomkraftwerke mit insgesamt 15 Reaktoren die Netzanbindung und konnten nur noch mit Notstromaggregaten betrieben werden. Um eine Katastrophe zu verhindern, musste das Team von Ukrenergo schnell reparieren, auch unter Lebensgefahr.

Innerhalb von 14 Stunden brachten sie das Netz wieder in Gang. 70 mobile Einsatzteams, insgesamt 1500 Personen, verteidigten im vergangenen Winter die Strominfrastruktur. Sie reparierten komplexe Trafos und Kompensatoren in den Umspannwerken und etwa 10.000 Kilometer Hochspannungsleitungen. Das war nur möglich, weil Ukrenergo vorgesorgt hatte.

"Das Geheimnis ist, dass wir vor der Invasion einen riesigen Vorrat an Ausrüstung und Materialien angelegt haben", sagt Geschäftsführer Kudrytskyi. "Denn wenn es zu einem großen modernen Krieg kommt, wird der Gegner das Stromnetz bombardieren, vor allem das Stromnetz, sonst nichts. Darauf sollte jeder im Ernstfall vorbereitet sein." Für Europa schlägt er das gemeinsame Anlegen eines Ersatzteilvorrats vor.

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Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete das Erste am 23. Mai 2023 um 21:45 Uhr in der Sendung "FAKT".