Amtsgericht Konstanz
Exklusiv

Mafia-Urteil in Deutschland Gericht fällt erstmals Urteil zur 'Ndrangheta

Stand: 10.02.2023 06:01 Uhr

Die kalabrische 'Ndrangheta ist seit Jahrzehnten in Deutschland aktiv. Doch eine Mitgliedschaft oder die Unterstützung der Mafia zu beweisen, ist juristisch schwierig. Jetzt ist an einem deutschen Gericht ein wegweisendes Urteil gefallen.

Von Margherita Bettoni, Axel Hemmerling und Ludwig Kendzia, MDR

Salvatore G., ein Kellner aus Überlingen am Bodensee, könnte Teil deutscher Justizgeschichte werden. G. war Angeklagter in einem Prozess vor dem Amtsgericht Konstanz. Das Gericht fand den gebürtigen Italiener des Drogenhandels für schuldig und verurteilte ihn zu insgesamt drei Jahren und sechs Monaten Haft. Bemerkenswert an diesem Urteil: G. wurde auch wegen der Unterstützung einer ausländischen kriminellen Vereinigung verurteilt. Gemeint ist hier die kalabrische Mafia 'Ndrangheta.

Nach MDR-Informationen ist es das erste Mal, dass ein deutsches Gericht jemanden wegen der Unterstützung der 'Ndrangheta verurteilt hat. Mehr noch: Es dürfte das erste Mal überhaupt sein, dass die 'Ndrangheta in Deutschland gerichtlich festgestellt wurde. Inzwischen ist das Urteil, das vor dem Berufungsgericht gelandet war, rechtskräftig. Das bestätigte G.s Anwalt Franz Dichgans dem MDR. Die Höhe der Freiheitsstrafe betrage nun zwei Jahre und fünf Monate.

Deckname "Platinum-Dia"

Ermittler hatten G. im Mai 2021 verhaftet, im Rahmen eines großen deutsch-italienischen Anti-Mafia-Verfahrens mit dem Decknamen "Platinum-Dia". Im Zentrum der Ermittlungen: Der Clan Giorgi, Spitzname "Boviciani", aus dem kalabrischen Dorf San Luca. Jahrelang hatten italienische und deutsche Mafia-Fahnder Mitglieder diese Gruppierung im Visier. Sie sollen unter anderem Kokain aus Südamerika über die Niederlande, Belgien und den Hamburger Hafen nach Italien importierten haben.

Salvatore G. arbeitete in dem Restaurant direkt an der touristischen Seepromenade am Bodensee. Ermittler zählen dieses Restaurant sowie zwei andere in Baden-Baden und in Radolfzell zu der Gruppierung. Zeitweise war G. Geschäftsführer der Firma, die das Restaurant am Bodensee führte. Das Amtsgericht Konstanz ist der Auffassung, dass G. die Gruppierung aus San Luca bei ihren Drogengeschäften unterstützte. Der Kriminalpolizei Friedrichshafen war es gelungen, eine Vertrauensperson an die Gruppierung heranzuführen. Im April 2019 kam es zu einem Treffen zwischen dieser und Salvatore G. im Restaurant in Überlingen.

Bei diesem Treffen soll G. über die Drogengeschäfte der Gruppierung gesprochen. Er soll erzählt haben, ihre Mitglieder bekämen ein Kilo Kokain sehr hoher Qualität für 32.000 Euro. Zwischen April und Mai 2019 bot G. der Vertrauensperson mehrere Kilo Kokain an. Schließlich platzte das Geschäft, wohl weil im kalabrischen Hafen von Gioia Tauro mindestens 50 Kilo Kokain beschlagnahmt wurden, die für den Giorgi-Clan bestimmt waren.

Kriminelle Gruppierung aus San Luca aufgeschlüsselt

Bemerkenswert am Konstanzer Urteil ist, dass ein deutsches Gericht sich die Mühe gemacht hat, im Urteil die kriminelle Gruppierung aus San Luca aufzuschlüsseln. Es werden die Rollen aufgelistet, die ihre Mitglieder einzeln gespielt haben sollen. Es wird von einer gemeinsamen Kasse mit rund fünf Millionen Euro gesprochen. Es geht um das Mafia-typische Schweigegelübde, die Omertà. "Das Gericht hat sich diese Arbeit gemacht, obwohl die kriminelle Vereinigung im Strafmaß keine Rolle spielt", sagt Arndt Sinn dem MDR. "Somit hat es die Ermittlungstätigkeit gewürdigt und aufgeklärt, wer etwa hinter dem Kokaingeschäft steckt."

Sinn ist Jura-Professor an der Universität Osnabrück. Er arbeitet an einem Forschungsprojekt zur organisierten Kriminalität und hat sich tiefergehend mit dem Paragraph 129 auseinandergesetzt. Das ist jener Paragraph aus dem Strafgesetzbuch, der die Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung unter Strafe stellt, auf den sich auch das Urteil gegen Salvatore G. teilweise stützt. Der Bundestag hat ihn 2017 reformiert. Seitdem ist es laut Sinn leichter geworden, deswegen Personen anzuklagen. Dennoch bleibt die Zahl der Urteile wegen des Paragraphs 129 überschaubar: Im Jahr 2021 wurden neun Menschen in ganz Deutschland deswegen verurteilt, im Jahr 2020 waren es sechs. Warum ist das so?

Während Drogenhandel nach deutschem Recht unter Umständen mit bis zu 15 Jahren bestraft wird, bekommt man für die Mitgliedschaft in einer kriminelle Vereinigung maximal bis zu fünf Jahre. Die Unterstützung wird mit maximal drei Jahren Haft bestraft. "Deswegen wird die kriminelle Vereinigung oft nicht verfolgt und aufgeklärt, weil wir Regelungen für Betäubungsmitteldelikte mit höheren Strafrahmen haben", sagt Sinn. Viele Polizeidienststellen führten zwar Ermittlungen im Bereich organisierter Kriminalität durch, doch oft stellten die Staatsanwaltschaften sie ein, sagt Sinn.

Kriminelle Organisation oft unentdeckt

Das Problem: "Der Handel mit fünf Kilo Kokain wird zwar bestraft, aber der Hintergrund - wo kommt das her, wer sind die Drahtzieher, wer sind die Netzwerke - das bleibt unentdeckt, weil Staatsanwaltschaften Verfahren einstellen, weil sie Bedenken haben, dass sie die Beweisführung nicht dicht bekommen", erklärt Sinn. Das sei ein großer Mangel bei der aktuellen Verfolgung von organisierter Kriminalität in Deutschland. Denn so bleibe oft die kriminelle Organisation hinter den einzelnen Straftaten unentdeckt - anders als beim Konstanzer Urteil.

Eine MDR-Anfrage bei den Justizministerien der Länder und bei allen deutschen Generalstaatsanwaltschaften ergab, dass es sich hierbei um das erste Urteil dieser Art handeln dürfte, was die 'Ndrangheta betrifft. Aktuell läuft in Düsseldorf ein weiteres Verfahren gegen 14 Männer. Die Staatsanwaltschaft Duisburg wirft fünf von ihnen die Mitgliedschaft in der 'Ndrangheta vor, weiteren sechs die Unterstützung derselbigen. Ein Urteil steht dort noch aus.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete der MDR-Podcast nvestigativ - Hinter der Recherche Mafia-Kolonie Ostdeutschland am 26. August 2022.