Nach Razzia bei Neonazis Die Angst in Colditz bleibt
Seit einer Razzia sitzen die Männer der Familie N., Mitglieder eines Netzwerks, in Untersuchungshaft. MDR-Recherchen zeigen, wie Rechtsextremisten über Jahrzehnte eine Kleinstadt in Sachsen beherrschen konnten - und Behörden versagten.
Mehr als 200 vermummte Polizisten rückten im Frühjahr in Colditz zu einer Großrazzia an. Die Beamten entdeckten auf den Grundstücken der Familie N. neben 5,5 Kilogramm Crystal und sieben Waffen auch eine große Hanfplantage mit 2.600 Pflanzen.
Ihr damaliger Holzhandel war bis in die 2010er-Jahre ein Zentrum der Neonazi-Szene. Die drei Männer der Familie, 35, 38 und 67 Jahre alt, sitzen seit der Razzia in Untersuchungshaft. Doch das Netzwerk der Rechtsextremisten versetzt die kleine Stadt in Sachsen nach wie vor in Angst und Schrecken.
Hartmut Lehmann war einer der wenigen, der den Neonazis entgegentrat. So auch 2021, als sich während der Corona-Proteste wütende Bürger und Rechtsextremisten in der Innenstadt von Colditz versammelten. Damals stand Lehmann mit wenigen Unterstützern auf dem Markt und machte eine Gegenveranstaltung.
Angriffe und Einschüchterungen
Wie viele andere in Colditz hat auch Lehmann bereits massive Gewalt erfahren. Nach der Razzia berichtet er MDR Investigativ von einem älteren Vorfall. Im Sommer 2005 sei er als damaliger Inhaber einer Werkstatt zu einer Motorradpanne an eine Bushaltestelle an den Rand von Colditz gerufen worden. "Da stand ein Typ, der hatte noch einen Sturzhelm auf." Er habe gefragt, warum der Mann bei der Hitze von über 30 Grad noch seinen Helm trage.
"Und dann kamen noch zwei andere Typen um die Ecke und haben dann auf mich eingeschlagen", so Lehmann. Sie hätten ihn in das Haltestellen-Häuschen gezerrt und auf ihn eingetreten. Die Angreifer hätten gesagt: "Überlege, mit wem du dich in Colditz anlegst und wie du dich aufführst."
Der Mann mit dem Irokesenschnitt kommt mit blauen Augen und blauen Flecken im Gesicht davon. Zufall oder nicht: Nur Minuten nach dem Überfall fuhr Ralf N. mit dem Auto vorbei. Es ist eine von zahlreichen Gewalttaten in Colditz, bei denen Spuren zur Familie N. führen. Vieles wurde nie aufgeklärt: auch dieser Angriff auf Lehmann nicht.
Hartmut Lehmann stellte sich als einer der wenigen Colditzer den Neonazis entgegen.
Rechtsextreme Szene seit den 1990er-Jahren
Seit den 1990er-Jahren hatte sich in Colditz eine aktive, rechtsextreme Szene gebildet. Immer mittendrin: die Familie N. mit Vater Ralf und den beiden Söhnen Uwe und Andreas. Neonazis provozierten immer wieder auf dem Markt und demonstrierten dort unter anderem mit T-Shirts, auf denen sowohl Totschläger abgebildet waren als auch das Motto "Angstzone Colditz".
Zudem organisierten sich auch rechtsextreme Kampfsportler und posierten vor dem damaligen Betrieb der Familie N.. Deren Holzhandel wurde zum zentralen Treffpunkt der Neonazi-Szene ausgebaut. In der Stadt wurde von "der braunen Halle" gesprochen.
Bis vor zwölf Jahren war der Gasthof Zollwitz vor den Toren der Stadt nicht nur Dorfdisco, sondern auch ein Ort für rechtsextreme Konzerte und Schulungsabende. Von dort - am Rand von Colditz - brachen am 23. Februar 2008 bis zu 100 vermummte Neonazis in die Innenstadt auf. Binnen einer Stunde gingen bei der Polizei 14 Notrufe ein, die MDR Investigativ vorliegen.
Ziel des Marsches war ein Elektrogeschäft. Im Saal nebenan hatten die Söhne des Besitzers angefangen, Punkkonzerte zu veranstalten. Ein Anrufer erklärte, dass auch Sprengkörper in das Gebäude geworfen würden. Im Elektroladen landen ein Mega-Böller und eine Nebelgranate aus NVA-Beständen.
Die Neonazis zogen weiter, zerstörten die Scheiben eines Dönerladens. Auch hier griff die Polizei nicht ein, obwohl Beamte mit fünf Einsatzwagen nur wenige Hundert Meter davon entfernt stehen. Für Colditz war es damals ein Schock. "Ich würde mir aber wünschen, dass man die Hinweise ernst nimmt", äußerte sich der damalige Bürgermeister Manfred Heinz (FDP) verärgert. "Dass man rechtzeitig reagieren kann und damit man auch die Täter unverzüglich dingfest machen kann."
Soko Rex übernahm Ermittlungen
Damals übernahm die "Soko Rex", die Sonderkommission Rechtsextremismus des Landeskriminalamtes die Ermittlungen. Doch es kommt wenig dabei heraus, wie die Akten zeigen. Der Grund: Die Polizei hatte auch nach dem Angriff keinen der Neonazis gestellt und die deckten sich anschließend gegenseitig.
Nur Ralf N. erhielt eine geringe Bewährungsstrafe. Er hatte am Rand Polizisten beleidigt und attackiert. 2009 soll N. bei einem Stadtfest den damaligen Bürgermeister Heinz zusammengeschlagen haben. Aus Angst erstattete der keine Anzeige, wie er MDR Investigativ später bestätigte.
Die Soko Rex hatte nach dem Angriff Telefonverbindungsdaten erhoben und viele Zeugen befragt. Bei den Befragungen durch die Polizei sagten Zeugen immer wieder, dass sie Angst vor Racheakten der Neonazis hätten und sich deshalb nicht vollumfänglich äußern wollten.
Der Besitzer des attackierten Elektroladens hat sich seit dem Angriff völlig zurückgezogen. Seine beiden Söhne verließen die Stadt. Der Vater verklagte später die Polizei. Das Verwaltungsgericht Leipzig gab ihm Recht und urteilte, dass die Polizei "... Maßnahmen zum Schutz der Geschäftsräume [...] trotz Kenntnis einer Gefährdungslage unterlassen hat."
Gerichtsverfahren gibt es nur selten
Gegen den Vater und seine Söhne aus der Familie N. wurden über die Jahre 424 Anzeigen gestellt. Es geht vor allem um Bedrohungen, Verkehrsdelikte und Körperverletzungen, aber auch um Raub und Nötigung. Nur fünf der Tatvorwürfe wurden als rechtsextrem eingestuft. Wie die Akten belegen, hatten Polizei und Staatsanwaltschaft meist kein Motiv ermittelt. Auch in der überschaubaren Zahl von Fällen, in denen es zu Strafprozessen kam, wichen die Gerichte dieser Frage aus.
2014 musste Ralf N. wegen zahlreicher Verstöße gegen Bewährungsauflagen für kurze Zeit ins Gefängnis. Im selben Jahr wurde sein Sohn Uwe von der Polizei mit 1,8 Kilogramm Crystal Meth aufgegriffen und zu mehr als vier Jahren Haft verurteilt. Die Sache wurde als Einzeltat verfolgt, ein Netzwerk erkannte die zuständige Staatsanwaltschaft Leipzig nicht.
Sprengsatz und Kugelbombe auf Pension
Einer der wenigen, die damals bereit waren über die Machenschaften der Familie vor der Kamera zu berichten, war Ralph Gorny, der bis heute eine Pension in der Innenstadt betreibt. Gorny hatte geschildert, dass Uwe N. nicht nur ständig mit großen Autos durch die Innenstadt heizte, sondern auch Touristen bepöbelte: "Über die letzten zehn bis fünfzehn Jahre hat er Gäste von meiner Pension belästigt. Er hat gesagt, ihr seid Ausländer und wir brauchen euer Geld nicht."
Heute will er sich nicht mehr interviewen lassen, denn seine damaligen Äußerungen hatten gravierende Folgen für ihn. Nach der Ausstrahlung des Interviews wurde ihm ein funktionsfähiger Sprengsatz vors Haus gestellt - es folgten Drohanrufe. Von 2014 bis 2016 wurden immer wieder Scheiben der Pension eingeworfen. Schließlich flog eine Kugelbombe auf die Holzterrasse der Pension. Ralf Gorny und ein Nachbar löschten das Feuer in letzter Sekunde. Tatverdächtige konnten nie ermittelt werden.
"Ich glaube, das Thema Gefahr von rechts wurde vielfältig unterschätzt", sagt die sächsische Landtagsabgeordnete der Linkspartei, Kerstin Köditz. "Man hat sich auf Hotspots konzentriert. Zur damaligen Zeit war es immer wieder Wurzen oder die Sächsische Schweiz. Aber Colditz? Wer kannte schon Colditz?" Sie kritisiert, dass die "Soko Rex" nach den 1990er-Jahren systematisch personell abgebaut wurde.
Die Landtagsabgeordnete der Linkspartei Köditz kritisiert den Personalabbau bei der "Soko Rex".
Innenausschuss beschäftigt sich mit Colditz
Nach der Razzia im Frühjahr beschäftigt sich nun auch Sachsens Innenausschuss mit Colditz. Dabei wurde sich auch mit der Frage auseinandergesetzt, ob es vielleicht Bedrohungen gegen Polizisten in Colditz gab. Dazu wurden damals eingesetzte Beamte befragt. Es kamen Einschüchterungsversuche zutage. Die aber alle strafrechtlich nicht relevant gewesen sein sollen.
MDR Investigativ hat versucht, nach der Razzia Betroffene aus Colditz zu interviewen. Doch viele befürchten, dass das rechtsextreme Netzwerk auch nach Verhaftung der Familie weiter aktiv ist. MDR Investigativ hat zwölf aktuelle und frühere Einwohner zu einem Treffen außerhalb der Stadt eingeladen und garantierte ihnen Anonymität.
Nur eine Person kam. Aus ihrer Sicht hätten viele Colditzer, den Glauben verloren, in einem Rechtsstaat zu leben. So lange wie nicht insgesamt alles durchleuchtet ist, auch die Strukturen, kehrt auch keine Ruhe ein", sagt sie. "Da sind andere Leute gefragt. Nicht bloß die Polizei, Colditz oder der Bürgermeister. Wir haben eine Landesregierung."
MDR Investigativ wollte auch den sächsischen Innenminister Armin Schuster (CDU) zum Problem Colditz befragen. Doch nach mehrfacher Verschiebung heißt es am Ende aus dem Ministerium: keine Zeit.
Angriff auf Jugendliche
Die Stimmung in Colditz scheint sich trotz Razzia kaum verändert zu haben. Einen Eindruck davon konnte man beim Stadtfest im Mai bekommen. T-Shirts von Thor Steinar und Neonazibands, die immer wieder zu sehen waren, schienen dort niemanden zu stören. Und Aufnahmen von MDR Investigativ dokumentieren, dass es nach dem Fest zu Hitlergrüßen und "Heil Hitler"-Rufen kam.
Wenige Tage später wurden nach Recherchen von MDR Investigativ Jugendliche des städtisch geförderten "Go-Teams" attackiert. Die jungen Leute, die unter anderem die U18-Wahl in Colditz organisieren und Müllecken beseitigen, wurden in ihrem Treff von betrunkenen Männern aufgesucht. Dabei sollen sie als "linksgrün versifft" beleidigt und bedroht worden sein.
Ein Jugendlicher wurde dabei nach Angaben von Zeugen mit einer Bank beworfen und an der Schulter getroffen; er habe außerdem einen Schlag ins Gesicht bekommen. Einer der Angreifer soll auch Morddrohungen gegen einen zur Hilfe gerufenen Betreuer geäußert haben. Die Polizei kam trotz zweier Anrufe nicht. Auf Anfrage teilte die Polizeidirektion Leipzig mit, die Beamten hätten vor Ort niemanden angetroffen. Inzwischen wird wegen Körperverletzung und Bedrohung ermittelt.