Coronavirus Wie ansteckend sind die Patienten?
In Deutschland müssen viele Menschen in Quarantäne, obwohl sie so wenig Virusfragmente haben, dass sie niemanden anstecken können. Nach Recherchen von WDR, NDR und SZ erhalten viele Gesundheitsämter nicht die entsprechenden Laborwerte.
Der Test, mit dem bundesweit Menschen auf das Coronavirus getestet werden, hat einen großen Vorteil, der zugleich ein Nachteil ist: Dieser PCR-Test ist sehr sensitiv. Das bedeutet, dass er bei richtiger Probenentnahme kaum einen Infizierten unentdeckt lässt. Doch die hohe Sensitivität führt auch dazu, dass zahlreiche Menschen ein positives Testergebnis bekommen, obwohl die Infektion bei ihnen schon so weit fortgeschritten ist, dass sie kaum mehr Viren im Körper haben - und auch niemand anderen mehr anstecken können.
Einen Hinweis auf die Virusmenge, die ein Patient in sich trägt, gibt der so genannte Ct-Wert. Er zeigt an, wie viele Runden die PCR laufen muss, bis Virus-Erbgut entdeckt wird. Bei einem Patienten mit viel Virusmaterial im Körper schlägt der Test häufig schon nach 10 bis 15 CT-Runden an, sagen Labormediziner. Wenn die PCR aber mehr als 30 Runden braucht, um Virusmaterial zu entdecken, ist ein Patient sehr wahrscheinlich gar nicht mehr ansteckend. Der Webseite des Robert Koch-Instituts zufolge lässt sich aus den Proben von Menschen mit einem Ct-Wert von mehr als 30 in Laborversuchen kein Virus mehr vermehren.
Doch viele Labore, die die PCR-Tests auswerten, stoppen die Analyse nicht bei einem Ct-Wert von 30, sondern in der Regel erst bei 37 oder 40, wie Ulf Dittmer erläutert. Der Vizechef der deutschen Gesellschaft für Virologie leitet die virologische Abteilung am Universitätsklinikum Essen. Da dort viele Verdachtsfälle mit Krankheitssymptomen getestet werden, sei der Ct-Wert "bei den meisten Fällen deutlich unter 30." Wenn man allerdings flächendeckend viele nicht-symptomatische Menschen teste, "dann steigen mit Sicherheit auch viele Ct-Werte auf einen Bereich über 30".
Viele sind nicht (mehr) ansteckend
Für Aufsehen sorgte in dieser Woche ein Artikel in der "New York Times", der berichtete, dass Testdaten aus Nevada, Massachsetts und New York nahelegen, dass bis zu 90 Prozent der PCR-Tests so hohe Ct-Werte zeigen, dass die Patienten kaum noch Viren hatten. Der Epidemiologe Michael Mina von der Harvard Universität plädiert deshalb dafür, den Ct-Grenzwert auf 30 festzulegen.
Der Berliner Corona-Experte Christian Drosten beschäftigte sich in seinem jüngsten Podcast auf NDR-Info ebenfalls mit dieser Frage. "Ein Ct-Wert von 30 in dem einen Labor ist nicht dasselbe in Form von Viruslast wie ein Ct-Wert von 30 in einem anderen Labor", warnte er. Grundsätzlich hielt er es aber für richtig, die Viruslast von Patienten zu quantifizieren - etwa durch Erfassung des Ct-Werts einer Referenz-Probe. "Ich finde es jetzt nicht falsch, wenn gerade auch in USA gesagt wird, lass uns einfach mal einen Ct-Wert festlegen, ich würde da auch mitgehen", so Drosten.
Speichel "verdünnt" Ergebnis
Der Essener Virologe Dittmer traut den Befunden aus den USA allerdings nicht recht. Er vermutet, dass die vielen hohen Ct-Werte, die dort berichtet werden, daher kommen, dass die Proben-Entnahme anders erfolgt als in Deutschland. So würden in den USA Proben häufig nicht im tiefen Rachen genommen, sondern nur mit Speichel, was das Ergebnis vermutlich verdünne. Auch bei Ehrenamtlichen in Deutschland, die zum Beispiel Tests an Autobahnen entnehmen, zweifelt er daran, dass der Abstrich immer korrekt entnommen werde.
Dittmers Labor macht die PCR-Tests nicht nur für die Kliniken in Essen sondern auch für die gesamte Stadt. Den Ct-Wert teilt er den Gesundheitsämtern in der Regel nicht mit. "Das ist nicht vorgesehen. Wir teilen in der Regel nur mit, ob jemand positiv oder negativ ist."
Auch der Laborverbund Dr. Kramer und Kollegen teilt auf Anfrage mit, dass der Ct-Wert intern zur Beurteilung der Probe herangezogen, aber nicht ans Gesundheitsamt weitergegeben werde. Von den 963 positiven Proben seit Ende Juli hätte fast jede zweite einen Ct-Wert von 30 oder mehr gehabt, teilt der Labormediziner Jan Kramer mit, der Vorstandsmitglied im Verband "Akkreditierte Labore der Medizin" ist. Doch die hohe Zahl komme auch zustande, weil darin Nachtestungen und Verlaufskontrollen enthalten seien, und das Virus bei Infizierten nach einem Höchststand eben jeden Tag weniger werde.
Zu wenig Information senkt Chance, Superspreader zu entdecken
Eine Umfrage von NDR, WDR und SZ unter Gesundheitsämtern hat ergeben, dass der Wert häufig gar nicht übermittelt wird. Das führt allerdings dazu, dass die Gesundheitsämter ohne Ct-Wert in der Regel auch keine Anhaltspunkte dafür haben, wie infektiös ein Mensch ist, der positiv getestet wurde. Das heißt auch, sie können sich beispielsweise auch nicht auf mögliche Superspreader konzentrieren, deren PCR-Test auf eine sehr hohe Viruslast hinweist.
Das Gesundheitsamt Köln teilt mit, dass es "nur in Einzelfällen nach medizinischer Indikation" den Ct-Wert mitgeteilt bekomme. Dortmund und Leipzig antworten auf Anfrage, dass sie keine Ct-Werte von den Laboren bekommen. In Lübeck erhält das Amt zwar auch keine Ct-Werte, aber häufig eine zusätzliche Angabe, ob der Test positiv oder nur schwach positiv ausgefallen sei. In München antwortet das Gesundheitsamt, manche Labore übermittelten den Wert, andere aber nicht. Wiesbaden erhält dagegen "immer mehr Laborbefunde mit Ct-Wert", auch in Karlsruhe wird der Wert "meist" mitgeteilt.
In Schwerin wird Wert für Quarantäne-Entscheidung genutzt
Das Gesundheitsamt Schwerin nimmt den Ct-Wert bereits zum Anlass für eine Quarantäne-Entscheidung. Bei zwei Patienten habe das Amt aufgrund hoher Ct-Werte in Absprache mit dem Labormediziner "eine Befreiung aus der Quarantäne" vorgenommen, wie die Sprecherin der Stadt auf Anfrage mitteilt.
Dass Personen mit einem Ct-Wert von über 30 überhaupt in Quarantäne müssen, stellt auch Virologe Dittmer in Frage. Gleichwohl könne man eine Entscheidung darüber auch nicht vom Ct-Wert alleine abhängig machen. Denn erstens müsse man sicherstellen, dass die Probe richtig entnommen wurde, zweitens müsse man klären, ob der positiv getestete Patient sich in der Phase einer ansteigenden oder absteigenden Infektion befinde. Doch diese letzte Frage lasse sich nur klären, indem man bei Patienten mit einem Ct-Wert von mehr als 30 kurz darauf einen zweiten Test mache.
Der Test, an der richtigen Stelle entnommen, ist auch mitentscheidend für ein verlässliches Ergebnis.
RKI: Wert ist nur ein "analytisches Detail"
Ob und wie viele Gesundheitsämter in Deutschland von den Laboren überhaupt Ct-Werte erfahren, kann auch das Robert Koch-Institut (RKI) nicht beantworten. Auf Anfrage teilt das RKI lediglich mit: "Wir gehen davon aus, dass die Laboratorien bei fraglichen Ergebnissen das weitere Vorgehen mit dem Gesundheitsamt klären." Immerhin, so das RKI, sei der Ct-Wert "ein analytisches Detail, das die Interpretation des Testergebnisses unterstützt". Allerdings sei der Wert nur ein Faktor in der Beurteilung. Ein Ct-Wert über 30 könne bei der Entlassung aus der Quarantäne "als Kriterium herangezogen werden", so das RKI.