Asylpolitik Geheimer Migrationsdeal mit dem Irak
Die Bundesregierung hält eine Migrationsvereinbarung zwischen Deutschland und dem Irak geheim. NDR, WDR und SZ liegt die schriftliche Erklärung zu Migration und Abschiebungen beider Länder vor. Die Opposition verlangt Aufklärung.
Für Olaf Scholz sind sie "das Wichtigste", was man in der Migrationspolitik benötige. In "kurzer Zeit" schon würden sie die "wichtigste Veränderung" bedeuten. Was der Bundeskanzler derart auflädt, sind Vereinbarungen mit Staaten, aus denen viele Asylbewerber nach Deutschland kommen.
Für die Bundesregierung gelten sie als das zentrale Instrument in der Migrationspolitik. Der Irak wiederum gilt seit vielen Monaten schon als besonders interessanter Verhandlungspartner, da von dort außergewöhnlich viele abgelehnte Asylbewerber kommen.
Eine Recherche von NDR, WDR und "Süddeutscher Zeitung" zeigt, dass die Bundesregierung und der Irak in den Verhandlungen schon viel weiter sind als öffentlich bekannt. Beide Länder haben demnach bereits vor Monaten eine gemeinsame Absichtserklärung vereinbart. Doch der Vorgang soll offenbar geheim bleiben.
Seit Jahren schon versucht Deutschland, die Zahl der Abschiebungen in den Irak zu erhöhen. Ende Oktober lebten hierzulande laut Bundesinnenministerium etwa 26.000 ausreisepflichtige Iraker - die mit Abstand häufigste Nationalität unter den Ausreisepflichtigen. Im gesamten Jahr 2022 wurden allerdings nur 77 Personen direkt in den Irak abgeschoben. Von der im Koalitionsvertrag angekündigten "Rückführungsoffensive" ist bislang also wenig zu spüren.
"Mehrgleisiges Programm"
Auf drei DIN A4-Seiten haben Deutschland und der Irak der Recherche zufolge im Frühjahr ihre gemeinsamen Ziele festgehalten: In dem vorliegenden Dokument bekunden "beide Seiten ihren Wunsch, ihre gegenseitige Zusammenarbeit im Bereich der Migration, einschließlich der legalen Migration, der konsularischen Zusammenarbeit, der Rückkehr und der Integration, zu verstärken".
Ein wichtiges Ziel sei es, die "freiwillige Rückkehr von Personen ohne Aufenthaltsrecht" zu fördern. Dafür wolle man ein "mehrgleisiges Programm" auflegen.
Konkret spricht die gemeinsame Absichtserklärung zudem die Einwanderung von Arbeitskräften an. Beide Seiten seien sich "einig, dass die legale Migration für beide Gesellschaften von Vorteil ist und die Beziehungen zwischen den beiden Ländern stärkt". Man wolle zum Beispiel das Ausstellen von Visa für Geschäftsreisende oder Studenten erleichtern.
Als Durchbruch beim Thema Abschiebung kann die festgehaltene Formulierung gelten, dass jetzt grundsätzlich alle Personengruppen infrage kommen: Beide Seiten vereinbarten die "die Rückübernahme von Staatsangehörigen, die nicht oder nicht mehr die Voraussetzungen für die Einreise, die Anwesenheit oder den Aufenthalt im jeweiligen Hoheitsgebiet erfüllen".
Das heißt: Der Irak zeigt sich damit also bereit, nicht mehr nur wie bisher vor allem straffällige Menschen zurückzunehmen, sondern grundsätzlich alle Staatsbürger. Zuletzt wurde bekannt, dass auch mehr Jesiden in den Irak abgeschoben werden, in dem sie früher durch die Terrormiliz IS verfolgt wurden.
Identitätsfeststellung soll geregelt werden
Konkret wird auch das größte Problem im Abschiebebereich angesprochen: die Identitätsfeststellung. Weil viele Asylsuchende hierzulande keine Ausweisdokumente vorlegen, ist eine Rückführung für sie bis zur Klärung der Identität ausgeschlossen. Deutschland und der Irak stimmen jetzt überein, dass alle Staatsbürger im jeweils anderen Staatsgebiet identifiziert und mit entsprechenden Dokumenten ausgestattet werden sollen.
Wenn die Identität ungeklärt ist, wollen beide Seiten biometrische Daten austauschen. Irakische Botschaftsmitarbeiter führten Interviews mit möglichen Staatsangehörigen, um die Identität festzustellen.
Die bislang geheim gehaltenen Vereinbarungen könnten bereits Wirkung zeigen: Wie zuerst die Flüchtlingsorganisation Pro Asyl berichtete, bestätigt der Irak vermehrt Identitäten von abgelehnten Asylbewerbern. Wurden 2022 nur 115 mutmaßlich irakische Staatsangehörige angehört, stieg die Zahl in diesem Jahr bis August auf 339.
Auch die Gesamtzahl der Rückführungen in den Irak hat sich verdoppelt - von 77 im Jahr 2022 auf 164 bis Ende Oktober 2023. Erst am Dienstag startete ein Sammelcharter aus München nach Bagdad. An Bord waren nach Auskunft der bayrischen Landesregierung 28 Iraker. Darunter sind 15 Personen, die zuvor straffällig geworden waren.
"Ich habe Angst"
Einer, der dachte, er könne in Deutschland bleiben, ist Ahmed Qaro. Der 24-Jährige aus der Nähe von Mossul kam vor wenigen Jahren. Er ging zur Berufsschule, arbeitete neun Monate lang als Praktikant bei einer bekannten Textilhandelskette und lernte Deutsch. Er besuchte einen Integrationskurs. Aber sein Asylantrag wurde abgelehnt.
Qaro hatte laut den Behördendokumenten angegeben, dass es im Irak keine Sicherheit gebe, es herrsche Terror. Allerdings: Eine individuelle, asylrechtlich relevante Verfolgung konnte er den deutschen Behörden nicht glaubhaft versichern.
Jetzt ist er einer der Tausenden Iraker, die Deutschland verlassen müssen - und damit eher der Normalfall: Denn drei Viertel aller Schutzgesuche von Irakern sind derzeit erfolglos. "Ich habe Angst", sagt er bei einem Treffen in Chemnitz. Er fragt sich, was die Regierungen in Berlin und Bagdad mit Leuten wie ihm jetzt vorhaben.
"Vertragsloses Verfahren"
Wie die Recherche von WDR, NDR und SZ zeigt, haben neben Deutschland weitere europäische Länder vertrauliche Migrationsvereinbarungen mit dem Irak getroffen - Österreich und Schweden zum Beispiel. Die EU-Kommission bestätigte auf Anfrage, dass es in diesem Jahr tatsächlich "im zweiten und dritten Quartal zu einem beispiellosen Wandel in der irakischen Rückkehr- und Rücknahmepolitik" gekommen sei. Die irakische Regierung habe sich verpflichtet, "alle Rückführungen zu akzeptieren".
Anders als die Kommission macht die Bundesregierung ihren Deal weiter zur Geheimsache. Auf Anfrage dementiert oder bestätigt sie die schriftliche Vereinbarung nicht. Auch zu "Einzelheiten" äußert sich das Bundesinnenministerium nicht, um die "Vertraulichkeit" zu wahren.
Die Zusammenarbeit erfolge im sogenannten vertragslosen Verfahren. Die Regierung sagt weiter: "Aus Sicht des Bundesinnenministeriums gestaltet sich die Zusammenarbeit mit der Republik Irak vertrauensvoll."
Woher diese Zurückhaltung kommt, darüber kann man nur mutmaßen: Aus Regierungskreisen heißt es, schon oft habe ein Partnerland plötzlich die Kooperation beendet. Der Recherche zufolge kann zudem jede Seite die Vereinbarung ohne Angabe von Gründen aufkündigen.
Zahlreiche Menschenrechtsverletzungen
Die Abschiebeoffensive in den Irak könnte zudem für Diskussionen sorgen, denn der Asyllagebericht des Auswärtigen Amtes zeichnet nach wie vor ein düsteres Bild zur Lage im Irak: Demnach sind staatliche Stellen "nach wie vor für zahlreiche Menschenrechtsverletzungen verantwortlich". Folter zur Erzwingung von Geständnissen, willkürliche Festnahmen und Entführungen durch irakische Sicherheitskräfte seien verbreitet.
Der Irak dementiert auf Anfrage die Migrationsvereinbarungen nicht und betont, dass die Zusammenarbeit mit Deutschland gut laufe.
Die Opposition übt deshalb deutliche Kritik an der Bundesregierung - sie mache Flüchtlingspolitik zur Geheimsache. "Bei Abschiebungen geht es schlimmstenfalls um Leben und Tod, mindestens aber um die Gewährleistung grundlegender Rechte", sagt Linken-Politikerin Clara Bünger. "Die Bundesregierung muss offenlegen, was mit dem Irak zum Thema Abschiebungen vereinbart wurde."
Der innenpolitische Sprecher der Unionsfraktion, Alexander Throm (CDU), hat grundsätzlich Verständnis für vertrauliche Absprachen. Allerdings: "Der Kanzler kann Migrationsabkommen nicht ins Zentrum seiner Politik stellen und dann Parlament und Öffentlichkeit komplett darüber im Unklaren lassen, welche Abkommen mit welchen Staaten abgeschlossen wurde", sagt Throm.