Telegram Kaum zu fassen
Über den Messengerdienst Telegram werden zahlreiche strafbare Inhalte verbreitet. Für deutsche Behörden ist die Betreiberfirma kaum greifbar, wie Unterlagen zeigen, die WDR, NDR und "SZ" vorliegen.
Von Florian Flade, WDR, und Georg Mascolo, NDR/WDR
In den Al Kazim Towers von Dubai, in den Büros 2301 und 2303 im 23. Stock, residiert ein Unternehmen, das manche für eines der gefährlichsten der Welt halten. Hier liegt der Firmensitz der "Telegram FZ-LLC". Der Messengerdienst Telegram ist eines der populärsten sozialen Netzwerke. Die Nutzer können darüber verschlüsselt kommunizieren, Fotos, Videos und andere Daten austauschen.
Und es gibt dort zahlreiche sogenannte Kanäle, auf denen nahezu unkontrolliert Hass, Hetze, rassistische und antisemitische Inhalte, Verschwörungsmythen über Corona oder islamistische Terrorpropaganda verbreitet werden. Auch Drogen oder auch gefälschte Impfpässe werden über Telegram angeboten.
Eine Bußgelddrohung in die Wüste
Am 28. April dieses Jahres schickte das deutsche Bundesamt für Justiz in Bonn ein ungewöhnliches Schreiben mit dem Aktenzeichen VIII2 - 4090/2 - 6E - 7 - 0 - 1/2021 an die Adresse von Telegram in den Vereinigten Arabischen Emiraten.
"Sehr geehrte Damen und Herren", heißt es in dem Brief, "als Anbieterin von Telegram betreiben Sie ein soziales Netzwerk mit mehr als zwei Millionen registrierten Nutzern in Deutschland." Damit unterliege Telegram dem deutschen Netzwerkdurchsetzungsgesetz von 2017 und sei verpflichtet, strafbare Inhalte zu sperren und zu melden. Telegram aber komme dieser Verpflichtung nicht nach. "Der ordnungswidrige Zustand wurde durch Fertigung von Screenshots beweisgesichert", schreiben die deutschen Beamten. Nun drohe ein Bußgeld von "bis zu fünfzig Millionen Euro"
Das Schreiben aus Bonn ist ein verzweifelter Versuch der deutschen Justiz, die Kommunikationsplattform dazu zu bringen, sich an hierzulande geltende Gesetze zu halten. Denn Telegram ist bislang für Behörden kaum greifbar. Lange Zeit war unklar, wo die Firma überhaupt residiert, wie viele Mitarbeiter sie hat, wie die Führungsriege des Unternehmens aussieht und wie viel Geld mit dem Messengerdienst verdient wird.
Ein Gründer mit schillernder Vergangenheit
Telegram ist die Erfindung des 37 Jahre alten Russen Pawel Durow, der in seinem Heimatland bereits mit seinem Bruder das soziale Netzwerk VKontakte aufgebaut hat. Als die russischen Behörden den Druck erhöhten und die Firma zur Herausgabe von Daten zwingen wollten, ging Durow ins Ausland. Zeitweise soll er in Berlin gelebt haben und gründete schließlich Telegram.
Heute gilt Durow als Milliardär, sein Wohnsitz liegt in den Vereinigten Arabischen Emiraten, er besitzt auch noch die Staatsbürgerschaft des Karibikstaates St. Kitts & Nevis.
Eine rechtsfreie Zone?
Telegram hat den Ruf, dass dort keine Inhalte gelöscht oder zensiert werden - und dass es auch keine Zusammenarbeit mit staatlichen Stellen gibt. In Ländern wie Iran, Belarus oder Syrien wird Telegram auch von Oppositionellen und Regimekritikern genutzt und gilt oftmals als unverzichtbar für sichere, anonyme Kommunikation.
Deutschen Behörden allerdings ist der Messengerdienst schon lange ein Dorn im Auge: Extremisten und Terroristen unterschiedlichster Ideologien tummeln sich dort und müssen anders als bei Facebook, Twitter oder Instagram keine Löschaktionen oder gar Identifizierung fürchten.
So werden über Telegram beispielsweise seit Beginn der Pandemie wirrste Verschwörungserzählungen, Desinformation und Fake News über das Virus und Impfstoffe verbreitet. Die Kanäle haben teilweise mehrere Zehntausend Follower. Auch Morddrohungen und Aufrufe zu Attentaten gegen Politiker, Wissenschaftler und Journalisten finden sich bei Telegram, teilweise werden Privatadressen und andere persönliche Informationen verbreitet.
Austausch über Mordpläne
Erst vor wenigen Tagen wurde durch Recherchen des ZDF-Magazins "Frontal21" bekannt, dass sich offenbar radikale Impfgegner in einer Telegram-Chatgruppe über Mordpläne gegen den sächsischen Ministerpräsidenten Michael Kretschmer ausgetauscht haben sollen. Ein Gruppenmitglied soll in einer Sprachnachricht behauptet haben, er habe sich bereits bewaffnet und Munition beschafft. Inzwischen ermittelt das Landeskriminalamt in dem Fall.
In den Sicherheitsbehörden ist man überzeugt, dass einige Inhalte, die bei Telegram ungehindert ausgetauscht und ausgesendet werden, zur Radikalisierung der sogenannten "Querdenker" beitragen. Ebenso gibt es Fälle, in denen beispielsweise Terrororganisationen wie der "Islamische Staat" (IS) über den Messengerdienst Attentäter angeworben und sogar angeleitet haben. Etwa Anis Amri, den Terroristen, der im Dezember 2016 mit einem gekaperten Lastwagen in den Weihnachtsmarkt am Berliner Breitscheidplatz raste.
Innenminister wollen Druck erhöhen
Schon länger bemühen sich die deutschen Behörden, den Druck auf Telegram zu erhöhen. Auf der vergangenen Innenministerkonferenz in Stuttgart verabschiedeten die Innenminister von Bund und Ländern eine Erklärung, in der es hieß das Netzwerkdurchsetzungsgesetz (NetzDG), das das Löschen und Melden von Hetze und Drohungen auf Plattformen vorschreibt, müsse dringend ergänzt werden, um "auch Messengerdienste wie etwa Telegram" zu erfassen.
Im Bundesministerium für Justiz ist man schon seit Ende 2020 davon überzeugt, dass Telegram auch dem NetzDG unterliegt. Denn der Messengerdienst diene eben nicht nur dem Austausch zwischen einzelnen Personen, sondern biete Mediendienstleistungen an. Telegram, so heißt es im Schreiben des Bundesamtes für Justiz, das dem Justizministerium unterstellt ist, sei dazu verpflichtet, genau wie Google oder Facebook einen "Zustellungsbevollmächtigten" in Deutschland zu benennen. Und es müsse den Nutzern ein einfaches Verfahren zur Verfügung stellen, um strafbare Inhalte zu melden.
Hoffen auf Amtshilfe
Nicht nur an Telegram ging im Frühjahr ein Schreiben aus Deutschland. Auch die Behörden in Dubai bekamen Post. "Nach internationalen Grundsätzen der Höflichkeit und Gegenseitigkeit", steht in dem Schreiben, bitte man das Justizministerium der Vereinigten Arabischen Emirate um Rechtshilfe. Die Erfahrung habe gezeigt, so heißt es im deutschen Justizministerium, dass es wohl einige Zeit dauern werde, bis man eine Antwort bekommt.
Die Beamten in Bonn hatten Telegram in ihrem Schreiben aus dem April eine zweiwöchige Frist für eine Rückmeldung gesetzt. Anderenfalls werde man "nach Aktenlage" entscheiden und müsse ein Bußgeld verhängen. Bis heute gibt es keine Antwort.