Stützpunkt der Mafia Die Kokshändler vom Bodensee
Im Mai gelang Ermittlern ein schwerer Schlag gegen die italienische 'Ndrangheta - mit Festnahmen auch in Süddeutschland. Dokumente zeigen nun laut NDR-Recherchen, welche Bedeutung Deutschland als Stützpunkt im Kokainhandel hat.
Sebastiano G. ist in der kleinen Stadt Überlingen am Bodensee kein Unbekannter. Die Familie des 48-Jährigen betrieb dort lange Zeit ein italienisches Restaurant, direkt am Seeufer gelegen. Touristen können hier eine günstige Pizza oder ein Eis essen . Doch bei Sebastiano G., der unter Freunden auf den Spitznamen "Bacetto" hört, was so viel wie "Küsschen" heißt, soll es sich nicht nur um einen gewöhnlichen Gastwirt handeln, davon sind zumindest Ermittler der Kriminalpolizeidirektion Friedrichshafen und der Anti-Mafia-Behörde (Direzione Investigativa Antimafia, DIA) in Turin überzeugt. Vielmehr rechnen sie G. einem Clan der italienischen Mafia-Organisation 'Ndrangheta zu, bereits seit mehreren Jahren steht er deshalb im Visier der Behörden.
Ermittlungsunterlagen, die Journalisten der Recherchenetzwerke OCCRP (Organized Crime and Corruption Reporting Project), IrpiMedia (Investigative Reporting Project Italy) und der NDR einsehen konnten, zeigen nun, welche zentrale Rolle G. und seine Familie im internationalen Kokainhandel gespielt haben sollen. Demnach soll G. daran beteiligt gewesen sein, Kokain-Lieferungen aus Südamerika über verschiedene Häfen in Nordeuropa zu organisieren. Hierfür soll er unter anderem mit kolumbianischen, albanischen und rumänischen Kriminellen kooperiert haben.
Hamburger Hafen spielt wohl wichtige Rolle
Aus Sicht der Ermittler stellt sich die Organisation der Drogentransporter dabei als effizient und als durchaus kaltblütig dar. So soll die Bande beispielsweise zur Absicherung einer Kokainlieferung eines kolumbianischen Drogenkartells kurzerhand ein "menschliches Pfand" genommen haben. Hierfür soll ein kolumbianischer Mann so lange in einem Hotel in den Niederlanden festgehalten worden sein, bis ein Drogengeschäft abgeschlossen war. Anschließend soll der Mann freigelassen worden sein, mit einem Rucksack, in dem sich mehrere Hunderttausend Euro Bargeld befunden haben, so vermuten es die deutschen Ermittler.
Die Ermittler gehen davon aus, dass die Gruppe gut im Geschäft war. In den Unterlagen ist die Rede von Drogenlieferungen, die über Rotterdam, Antwerpen und Barcelona liefen. Und offenbar spielte auch der Hamburger Hafen eine wichtige Rolle. Hier beschlagnahmten Zöllner im Jahr 2018 mehrere Hundert Kilo Kokain, die in einem Containerschiff aus der Dominikanischen Republik versteckt waren. Die Abnehmer der Lieferung konnten nicht genau ermittelt werden, doch abgehörte Gespräche legen den Verdacht nahe, dass auch in diesem Fall die Gruppierung um G. ihre Finger im Spiel hatte.
200.000 Euro Umsatz in einer Woche
Die Beschuldigten sollen das Kokain anschließend mit Gemüsetransportern nach Italien gebracht haben, um es dort kiloweise an Dealer, aber auch an Gastronomen zu verkaufen. Welchen Gesamtumsatz die Gruppe mit ihren Drogengeschäften gemacht haben könnte, lässt sich wohl nur erahnen. Aus abgehörten Gespräch geht allerdings hervor, dass die in Deutschland und Italien lebende Familie von G. in einer einzelnen Woche etwa 200.000 Euro im Kokainhandel umgesetzt haben soll.
Was mit den Gewinnen aus dem florierenden Rauschgift-Geschäft passierte, ist nicht vollständig geklärt. Aus Abhörprotokollen der italienischen Strafverfolgungsbehörden geht allerdings weiter hervor, dass die Bande ihre Gewinne zumindest teilweise in so genannten Erdbunkern in Kalabrien vergraben haben könnte.
Eigene Firmenstruktur in Deutschland
Deutsche Ermittler sind davon überzeugt, dass die Gruppe um Sebastiano G. zudem Lebensmittel aus Italien nach Deutschland importierte, um diese hier an andere Gastwirte zu verkaufen. Hierfür sollen die Kriminellen eine eigene Firmenstruktur in Deutschland aufgebaut haben. Bei dem Handel soll keine Umsatzsteuer an den deutschen Fiskus abgeführt worden sein, den Steuerverlust schätzt die Staatsanwaltschaft Konstanz auf bis zu zwei Millionen Euro, deshalb ermitteln auch deutsche Steuerfahnder gegen mehrere der Beschuldigten.
Während im italienischen Haftbefehl Sebastiano G. bereits unter anderem bandenmäßiger Drogenhandels vorgeworfen wird, warten zwei Beschuldigte in Deutschland auf ihre Anklage, ein dritter Beschuldigter wird derzeit mit internationalem Haftbefehl gesucht. Die Staatsanwaltschaft Konstanz erklärte dem NDR, dass sich die meisten der Beschuldigten zum Zeitpunkt der Razzia "coronabedingt" in Italien aufgehalten haben, die in Konstanz anhängigen Strafverfahren werden nun mit der in Haftsachen gebotenen "besonderen Beschleunigung" durchgeführt.