Bulgarisch-türkische Grenze Flüchtling an der EU-Außengrenze angeschossen
Aufnahmen zeigen, wie ein Flüchtling an der EU-Außengrenze von scharfer Munition getroffen wurde. Analysen des Videos und Augenzeugenberichte legen nahe, dass der Schuss mutmaßlich von bulgarischer Seite abgegeben wurde.
Unterwegs in der bulgarisch-türkischen Grenzregion: Einige Kilometer vom Grenzzaun entfernt werden die Straßen zu Schotterpisten. Schließlich verbieten Schilder die Weiterfahrt für zivile Fahrzeuge. Ein Fahrzeug der bulgarischen Grenzpolizei scheint ein Militärfahrzeug zu eskortieren. Mit hoher Geschwindigkeit fahren beide in Richtung Grenze. Auf der Ladefläche sind Personen zu erkennen. An manchen Tagen habe er zehn dieser Trucks gesehen, erzählt ein älterer Herr, der letzte Einwohner des Grenzdorfes Granichar. "Sie bringen sie dorthin zurück, wo sie hergekommen sind. Ich weiß nicht was da passiert, aber ich sehe wie sie sie in Fahrzeugen zurückbringen."
Von Pushbacks, also illegalen Abschiebungen über die Grenze ohne Überprüfung der Einzelfälle, wird in der Gegend immer wieder berichtet. Es ist der 3. Oktober. Die untergehende Sonne blitzt noch durch die Bäume, taucht die verstörenden Szenen, die sich gleich abspielen werden, in warmes Herbstlicht. Eine Gruppe junger Männer wurde, so erzählen sie später, in die Türkei zurückgeschickt, auf die andere Seite des Grenzzauns. Sie rebellieren, fluchen, werfen Steine. Die bulgarische Polizei wird später von "aggressivem und feindlichen Verhalten" sprechen.
Tumult am Grenzzaun
Ein Flüchtling filmt mit dem Handy - sowohl den Tumult am Grenzzaun, als auch das, was in den folgenden Minuten passiert: Ein Schuss ist zu hören, man sieht, wie ein junger Mann in schwarzem T-Shirt getroffen wird. Er strauchelt und fällt. Die Kugel trifft ihn in die Brust. Die anderen Flüchtlinge tun was sie können, um sein Leben zu retten. Man hört verzweifelte Rufe, sieht hilflose und hektische Versuche, erste Hilfe zu leisten.
Der junge Mann heißt Abdullah und ist 19 Jahre alt. Er wird in ein türkisches Krankenhaus gebracht und operiert. Der Arztbrief liegt dem ARD-Studio Wien und europäischen Medienpartnern vor. Er bestätigt die Verletzung durch ein Projektil. Die Kugel scheint sein Herz nur knapp verfehlt zu haben. Eine Reporterin macht Abdullah ausfindig, trifft ihn einige Wochen später in der Türkei. Sein Zustand hat sich stabilisiert. Im Interview beschuldigt er die bulgarische Grenzpolizei. Seiner Aussage zufolge tauchten bulgarische Grenzbeamte in einem Fahrzeug auf. Sie hätten erst Warnschüsse abgegeben und dann direkt auf ihn geschossen. "Wenn die Kugel die Vene zerstört hätte, würde ich jetzt nicht mehr leben. Es ist ein Wunder. Ich hätte nie gedacht, dass auf mich geschossen wird. In einem Land, das sich europäisch nennt."
Eine forensische Analyse des Handyvideos stützt Abdullahs Bericht. Die Analysen eines Audioexperten legen nahe: "Das Spektrum des Mündungsknalls hat eine Spitze bei 1000 Hz, was mit Mündungsknalls in Vorwärtsrichtung von kleinen Schusswaffen wie einer Handfeuerwaffe übereinstimmt." Laut der Expertenanalyse scheint der Schuss also aus der Richtung gekommen zu sein, in die das Aufnahmemedium, nämlich die Kamera zeigt - also aus Richtung der bulgarischen Seite.
Darüber hinaus gibt es weitere Videos, die die Situation vor dem Schuss zeigen. Auf einem dieser Videos ist auf bulgarischer Seite ein Militärtruck und ein Land Rover Discovery zu erkennen. Beide Fahrzeuge werden von bulgarischen Einsatzkräften im Grenzgebiet genutzt.
Bulgarisches Innenministerium bestreitet Vorwürfe
Auf die Vorwürfe angesprochen teilt das bulgarische Innenministerium schriftlich mit, am 3. Oktober habe es einen Gewaltausbruch an der Grenze gegeben. Steine seien geworfen und ein Polizist verletzt worden. Von ihrer Seite seien aber keine Schüsse abgegeben worden.
Der Druck an der bulgarisch-türkische Grenze nimmt zu. Allein in diesem Jahr gab es nach Aussage der bulgarischen Behörden mehr als 150.000 Versuche, von der Türkei nach Bulgarien zu kommen. Das sind vier mal so viele wie im Vorjahr (36.000). Einige Menschen überleben den Weg durch die unwegsamen Wälder im Niemandsland an der Grenzen nicht. Sie landen, manchmal nach Tagen, bei Dr. Galina Mileva in der Gerichtsmedizin in Burgas. Auch sie merkt, dass sich mehr Flüchtlinge auf den Weg machen, doch nicht alle ankommen.
Eigentlich kann sie neun Körper aufbewahren, momentan hat sie 18 Leichen. Weil der Platz in den Kühlschränken nicht mehr ausreicht, hat sie improvisiert und sich eine Eistruhe besorgt. Dort liegen jetzt drei Menschen, verpackt in schwarze Plastiktüten, einer davon ist ein Flüchtling. Der Zustand, in dem die Toten bei ihr ankämen, sei zum Teil sehr schlecht, erzählt die Pathologin. Manchen fehle die Kleidung. "Zu viele Flüchtlinge sind in den Strandja-Bergen gestorben. Diejenigen, die krank sind oder nicht laufen können, denn sie laufen ohne Wasser und Nahrung, die schwachen werden zurückgelassen und sterben."
Der 19-Jährige Abdullah wurde an der EU-Außengrenze am 3. Oktober von scharfer Munition getroffen. Er hat den Schuss wie durch ein Wunder überlebt.
Dem Text liegt eine gemeinsame Recherche des ARD-Studios Wien, Lighthouse Reports, Sky News, Le Monde, The Times und Domani zugrunde.