Essenslieferdienst Lieferando Bestell-Boom auf dem Rücken der Beschäftigten?
Deutschlands Marktführer für Essenslieferungen, Lieferando, setzt auf fragwürdige Bonusmodelle und ficht Betriebsratswahlen an, zeigen Recherchen von Report Mainz. Gewerkschaften und Arbeitsrechtler kritisieren veraltete Gesetze.
Die ersten Schweißperlen auf der Stirn, sie zeigen sich schon nach wenigen Minuten. Es ist warm an diesem Mittag, die Sonne scheint. Christoph ist schon nach seiner ersten Lieferung aus der Puste. "Weil ich die Treppen hochstürme", erklärt er, "dann ist man ein bisschen schneller oben".
Keine Zeit verlieren, wie so oft in Christophs Alltag als Fahrradkurier für Lieferando. 60 Kilometer wird er an diesem Tag strampeln, unzählige Treppenstufen laufen. Seine Aufträge bekommt er über eine App. "Das ist ein harter Job, die Uhr läuft immer mit", erzählt Christoph.
Er heißt eigentlich anders. Seinen echten Namen möchte er nicht nennen. Denn anders als viele andere Mitarbeiter ist er bereit, mit dem ARD-Politikmagazin Report Mainz auch vor der Kamera über die Arbeitsbedingungen bei Lieferando zu sprechen, über die körperlichen Folgen der Arbeit und darüber, wie fair die Bezahlung bei Deutschlands Marktführer der Essenslieferdienste ist.
Ein unfaires Bonussystem?
Für die anstrengende Arbeit zahlt Lieferando Christoph den gesetzlichen Mindestlohn, also zwölf Euro pro Stunde. So kommt er bei 35 Stunden in der Woche auf monatlich etwa 1700 Euro brutto. Obendrauf kommen Bonuszahlungen, bei denen die Anzahl der Lieferungen am meisten ins Gewicht fällt.
Doch wie viele Aufträge er schaffe, sei Glückssache. Das könne er kaum beeinflussen. Es hänge etwa von der Länge der Lieferstrecke ab, wie lange er im Restaurant aufs Essen warten müsse oder wie lange es dauere, bis ihm die App einen neuen Auftrag zuteile. Trotz gleicher Arbeitszeit bekommt er zum Beispiel in dem einen Monat etwa 350 Euro Auftragsbonus, im nächsten nur etwa 240 - Schwankungen also um bis zu rund 100 Euro. Für Christoph ist das viel Geld. Es mache den Unterschied, "einmal mehr im Monat warm essen zu können". Gerade in Zeiten gestiegener Preise zähle für ihn jeder Euro.
"Eine Sauerei auf dem Rücken der Menschen"
Report Mainz liegen hunderte Seiten Lohndaten von Lieferando-Kurieren aus ganz Deutschland vor. Das Magazin hat die Daten auf Plausibilität geprüft. Sie zeigen, dass die Schwankungen kein Einzelfall sind. Bei zahlreichen Fahrern variieren die Bonuszahlungen deutlich, um rund 100, 150, teils sogar um 200 Euro im Monat. Wie rechtfertigt Lieferando diese Schwankungen? Das Unternehmen teilte Report Mainz mit, Kuriere verdienten im Schnitt mehr als 14 Euro pro Stunde. Mit einem Grundlohn von zwölf Euro hätten sie ein planbares Grundgehalt. Der Bonus sei ein zusätzlicher Anreiz.
Mark Baumeister von der Gewerkschaft "Nahrung Genuss Gaststätten" (NGG) kritisiert das Bonusmodell. Seiner Einschätzung nach zeigen die Daten, dass das System unfair ist. "In einem Mindestlohnbereich von Boni-Zahlungen zu reden und Leute mit Boni-Zahlungen abzuspeisen, ist eine Sauerei auf dem Rücken der Menschen", so Baumeister im Interview mit Report Mainz. Lieferando verlagere damit das Geschäftsrisiko auf die Kuriere. Sie müssten ausbaden, wenn beispielsweise weniger Essen bestellt werde, so seine Bewertung.
Eine Gefahr für die Verkehrssicherheit?
Außerdem sehen Gewerkschaft und Kuriere in dem Bonus einen Anreiz, dass Fahrer unnötig schnell fahren und womöglich sich und andere Verkehrsteilnehmer in Gefahr bringen, um mehr Lieferungen zu schaffen und damit mehr Boni zu bekommen. Für Lkw-Fahrer sind bestimmte Akkordlöhne aus diesem Grund seit den 1970er-Jahren sogar gesetzlich verboten.
Auf Anfrage von Report Mainz weist Lieferando die Vorwürfe zurück. Die Sicherheit der Fahrer habe höchste Priorität, sie bekämen "regelmäßige Unterweisungen zum verkehrsgerechten und sicheren Fahren". Die Sicherheitsstandards würden unter anderem durch Arbeitsschutzbeauftragte überprüft. Das entsprechende Gesetz aus den 1970er-Jahren gelte für "das Fahrpersonal von Kraftfahrzeugen, die der Güter- und Personenbeförderung dienen", nicht aber für Arbeitnehmer, die mit Fahrrädern oder einem Pkw unterwegs seien.
Genau das sei das Problem, sagt die Gewerkschaft NGG. Lieferando nutze aus, dass bestehende Gesetze die moderne Arbeitswelt nicht ausreichend abbildeten, so die Einschätzung von Mark Baumeister.
Moderne Arbeitswelt, veraltete Gesetze?
Nach Recherchen von Report Mainz ficht Lieferando derzeit in mindestens vier Städten die Wahlen von Betriebsräten an, zum Beispiel in Aachen. Lieferando argumentiert unter anderem, in der Stadt existiere kein eigener Betrieb. Denn das Liefergebiet werde vollständig aus der Unternehmenszentrale Berlin koordiniert und geleitet. Müsste also der Betriebsrat in der Unternehmenszentrale zuständig sein?
Das sei absurd, beklagt der derzeitige Aachener Betriebsratsvorsitzende Daniel Lavalle. Betriebsräte aus Berlin hätten keine Chance, innerhalb eines Arbeitstages die Stadt zu erreichen, um sich bei Beschwerden ein Bild zu machen. "Ein Betriebsrat aus Berlin wäre völlig sinnlos", so Lavalle.
Mit ähnlichen Begründungen wie in Aachen ficht Lieferando die Wahlen der Betriebsräte in Braunschweig, Mainz und Bremen an. Sind die Betriebsräte dem Unternehmen ein Dorn im Auge? Auf Anfrage von Report Mainz teilte Lieferando mit, man unterstütze betriebliche Mitbestimmung sowie die Gründung von Betriebsräten, allerdings "im Rahmen der gesetzlichen Regelungen".
Doch das zugrunde liegende Betriebsverfassungsgesetz sei veraltet und nicht auf eine digitale Arbeitswelt ausgelegt, kritisieren Experten, so auch Johanna Wenckebach von der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung. Sie ist Professorin für Arbeitsrecht und ehrenamtliche Richterin am Bundesarbeitsgericht. Der Betriebsbegriff im Gesetz stamme aus einer Zeit, in der klar gewesen sei, dass es einen Arbeitsort gebe, an dem Menschen zusammenkämen und Führungskräfte säßen.
"Wir haben jetzt aber Zeiten, in denen es Apps gibt, die Beschäftigte steuern und Aufträge verteilen", so Wenckebach im Interview mit Report Mainz. "Da braucht es keine Führungseinheiten vor Ort mehr." Der Gesetzgeber müsse das Betriebsverfassungsgesetz dringend anpassen, so Wenckebach. Dadurch könne man auch in der digitalen Arbeitswelt Mitbestimmung besser gewährleisten.
Offenbar keine Gesetzesanpassungen geplant
Entsprechenden Handlungsbedarf für Gesetzesänderungen sieht das Bundesarbeitsministerium allerdings nicht. Auf Report Mainz-Anfrage heißt es, der Betriebsbegriff sei "auch für neue Arbeitsformen offen und flexibel". Auch zu Bonuszahlungen und möglichen Auswirkungen auf den Straßenverkehr plant die Bundesregierung offenbar keine Anpassungen der Gesetze.
Das Ministerium teilte allgemein mit, "man setze sich für faire und angemessene Arbeits- und Tätigkeitsbedingungen auch in der Plattformökonomie ein" und verweist auf einen Entwurf für eine Richtline zu diesem Thema auf EU-Ebene sowie auf ein geplantes "Tarifpaket", um Tarifbindung zu stärken. Damit sich für Fahrer wie Christoph etwas ändere, müsse die Bundesregierung zeitnah handeln, fordert die Gewerkschaft NGG.