Mehrwertsteuersenkung auf Gas Ein Konzept muss her
Mit der Mehrwertsteuersenkung auf Gas will die Bundesregierung die Bürger entlasten. Gut gemeint, doch umständlich und ökologisch zweifelhaft, meint Lothar Lenz. Stattdessen sollte sie ein Konzept vorlegen, wem sie wirtschaftlich helfen will.
Pfiffe und Proteste bei Robert Habeck Ende Juni in Schwedt, wütende "Hau ab!"-Rufe für Olaf Scholz gestern in Neuruppin: Es geht nicht mehr ganz so friedlich zu bei öffentlichen Auftritten von Mitgliedern der Bundesregierung. Viele Menschen machen sich Sorgen um ihre Zukunft, fragen sich, wie sie Essen, Wohnen und Heizen demnächst noch bezahlen sollen, und manche artikulieren lautstark ihren Unmut gegen "die da oben". Die Regierung müsse mehr tun für das einfache Volk, lautet die gemeinsame Überzeugung - und die reicht von der bürgerlichen Mitte bis weit an die Ränder.
Längst scheinen selbst AfD und Linkspartei ihre ideologischen Gräben zu überwinden im Schulterschluss gegen die Bundesregierung. Hat die Solidarität mit der Ukraine Grenzen? Und welche wirtschaftlichen Folgen des Krieges sind auf Dauer zumutbar?
Man muss gar nicht dem politischen Geraune von einem angeblich bevorstehenden "Heißen Herbst" glauben oder gar einen Volksaufstand aufziehen sehen wie einst Annalena Baerbock. Man kann aber festhalten: Es gibt politische und soziale Fragen, auf die die Ampel-Koalition Antworten finden muss.
Billiges Gas ist ökologisch zweifelhaft
Scholz hat heute eine gegeben. Mit der befristeten Senkung der Mehrwertsteuer auf den Gasverbrauch wendet die Bundesregierung genau die Zusatzbelastung ab, die sonst ab Oktober durch die Gasumlage entstanden wäre. Ohnehin fällt es vielen Verbrauchern schwer, zu verstehen, warum es diese Umlage braucht, wo doch die Gasrechnungen und Abschlagszahlungen für viele Privathaushalte ohnehin schon exorbitant gestiegen sind. Jetzt also gilt: Gasumlage drauf, aber Steuern runter - wohl dem, der einen Taschenrechner hat.
Weniger Mehrwertsteuer auf den Gasverbrauch - das heißt aber auch weniger Einnahmen für den Staat. Man hätte also die Handelsverluste der Gasversorger, die seit dem russischen Lieferstopp woanders und teurer einkaufen müssen, gleich aus dem Bundeshaushalt bestreiten können. Und ökologisch ist es ohnehin zweifelhaft, den Gasverbrauch jetzt wieder billiger zu machen - denn eigentlich will die Bundesregierung doch erreichen, dass die Bürgerinnen und Bürger sparsamer werden und weniger fossile Energie verbrauchen.
Der Sozialstaat kann nicht alle Folgen ausgleichen
"You'll never walk alone" - es wird niemand alleine gelassen mit den wirtschaftlichen Folgen des Ukraine-Krieges - dieses Versprechen hat Scholz heute noch einmal wiederholt. Das ist eine sehr weitreichende Zusage, aber sie bleibt auch seltsam diffus. Die Bundesregierung muss endlich ein Konzept entwickeln, wem sie wirtschaftlich unter die Arme greifen will - und wem nicht. Der Sozialstaat tut viel, aber er überhebt sich, wenn er so tut, als könne er alle Folgen von Krieg und Inflation ausgleichen.
Und: Die Ampel muss dem Narrativ vom angeblichen Volksaufstand auch rhetorisch mehr entgegensetzen als Tankrabatt und 9-Euro-Ticket. Zum Beispiel, dass es das Land stark macht, Lasten gemeinsam zu tragen und eine Krise zu überwinden. Ein "Heißer Herbst" in Deutschland nützt nur einem: Wladimir Putin.
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