Erdogan spricht vor Journalistinnen und Journalisten beim Nato-Treffen in Madrid.
Kommentar

Finnland und Schweden in die NATO Nicht von Erdogan erpressen lassen

Stand: 05.07.2022 18:46 Uhr

So richtig Grund zur Freude ist der Ratifizierungsprozess nicht. Noch sind Finnland und Schweden nicht in der NATO. Der türkische Präsident Erdogan kann es immer noch blockieren. Aber Europa sollte ihm nicht nachgeben.

Ein Kommentar von Helga Schmidt, ARD Brüssel

Eigentlich könnte es kaum besser laufen. Finnland und Schweden kommen unter den Schutz der NATO, das ist Schutz vor einer russischen Aggression, und die ist seit dem Angriff auf die Ukraine für die Skandinavier bedrohlich nahe gekommen. Und auch die NATO profitiert: Die neuen Mitglieder bringen modern ausgerüstete Armeen mit, Spezialfähigkeiten in der Marine und bei der Luftwaffe - das klingt jetzt vielleicht nach einem Detail, interessant für Militärs und Waffenbegeisterte.

Entscheidender Schritt fehlt noch

Aber das ist für unsere Sicherheit mitten in Europa wichtig, nachdem Russlands Präsident Putin bewiesen hat, dass ein altmodischer konventioneller Krieg auch im Jahr 2022 noch geführt werden kann. Die Nord-Erweiterung der NATO dürfte also mehr Sicherheit für alle Beteiligten bringen und die Unterzeichnung der Beitrittsprotokolle war heute ein wichtiger Schritt.

Der entscheidende Schritt fehlt aber noch: Die Ratifizierung, mit der alle 30 Mitgliedsländer der NATO den Vertrag über die Aufnahme zweier neuer Mitglieder für völkerrechtlich verbindlich erklären. Das ist leider keine Formsache, sondern daran könnte alles noch scheitern.

Türkei will Auslieferung von "Terroristen"

Wer so etwas sagt? Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan. Kaum hatte er beim NATO-Gipfel in Madrid zur großen Erleichterung der Partner beigetragen und nach wochenlanger Blockade eine Einigung mit Schweden und Finnland unterzeichnet, da kamen schon wieder die bekannten Bremsversuche. Ratifizierung durch die Türkei komme nur, wenn die türkischen Bedingungen erfüllt würden.

Die Erleichterung ist verflogen, denn jetzt zeigt sich, dass die Vereinbarung von Madrid ganz unterschiedlich ausgelegt wird - je nach Standpunkt. Der türkische Präsident versteht unter dem vereinbarten gemeinsamen Kampf gegen Terrorismus etwas ganz Konkretes, nämlich, dass Schweden mehr als 70 Terroristen an die Türkei ausliefern soll. Sofort. Die Liste mit den Namen der angeblichen Terroristen wurde schon von Ankara nach Stockholm verschickt.

Basis des europäischen Rechts

Dort sieht man das ganz anders und verweist auf eine gültige Regel: Ausgeliefert werden kann nur auf der Basis des europäischen Rechts. Eigentlich eine Selbstverständlichkeit, aber für den türkischen Herrscher eben nicht.

Er hält nichts von der Verbindlichkeit des Rechts und definiert lieber selbst, wer als Terrorist zu gelten hat. Und das sind eben nicht nur die Mitglieder der auch in der EU verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK, sondern auch Menschen, die in Skandinavien Schutz gefunden haben - kurdische Oppositionelle, unabhängige Journalisten, Menschenrechtsaktivisten. Sie haben Angst, ausgeliefert zu werden, denn sie wissen, was sie erwartet. Die türkischen Gefängnisse sind voll mit Kritikern von Erdogans Herrschaft.

Erdogan nicht nachgeben

Es wäre verhängnisvoll, wenn Erdogans Tauschgeschäft gelinge. Keine europäische Regierung, auch nicht die, die aus Sorge um die eigene Sicherheit lieber heute als morgen in die NATO will, darf dem Diktator in Ankara nachgeben.

Ohnehin haben Finnland und Schweden schon jetzt Sicherheitsgarantien einzelner Partner bekommen, unter anderem von den USA und auch von Deutschland. Das schafft Vertrauen, und das schafft einen Zeitpuffer für die Übergangszeit bis zur endgültigen Aufnahme, die dann für die Skandinavier auch die Beistandsgarantie aller Partner nach Artikel 5 des Nordatlantikvertrages bringt. Die NATO kann also warten, sie muss sich nicht noch einmal vom türkischen Präsidenten erpressen lassen.

Helga Schmidt, Helga Schmidt, ARD Brüssel, 06.07.2022 05:41 Uhr
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Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Deutschlandfunk am 05. Juli 2022 um 11:00 Uhr.