Terror-Chat ausgewertet Der "Lego-Islam" junger Dschihadisten
Forscher haben die WhatsApp-Kommunikation junger Islamisten ausgewertet. Darunter sollen auch die Sikh-Tempel-Attentäter von Essen sein. Über die Erkenntnisse aus diesen Protokollen hat der Islamwissenschaftler Kiefer, einer der Autoren der Studie, mit tagesschau.de gesprochen.
tagesschau.de: Was genau haben Sie untersucht?
Michael Kiefer: Es handelt sich um das Protokoll einer WhatsApp-Gruppe, deren Mitglieder einen Anschlag geplant und durchgeführt haben. Wir wissen, dass es Jugendliche waren, 16 bis 17 Jahre alt, und wir wissen, dass es nur Männer waren. Das Protokoll dokumentiert die Kommunikation über einen Zeitraum von drei Monaten, insgesamt über 5700 Postings.
Michael Kiefer ist Islamwissenschaftler und lehrt seit 2012 an der Universität Osnabrück. Er promovierte an der Universität Köln über Islamunterricht in Nordrhein-Westfalen. Kiefer forscht seit langem zur Radikalisierung von Muslimen. Er ist Teil des "Forschungsnetzwerks Radikalisierung und Prävention" (FNRP).
tagesschau.de: Welche Bedeutung haben diese Protokolle?
Michael Kiefer: Es ist für uns ein äußerst bedeutsamer Forschungsfund. Wir konnten noch nie authentisch nachlesen, wie Jugendliche Gewalt legitimieren, wie sie dazu kommen zu sagen, dass sie in einer Welt leben, die vorwiegend von Ungläubigen bevölkert ist und dass man diese Ungläubigen als Feinde des Islams zu betrachten hat. Hier war der Text sehr aufschlussreich. Wir konnten sehen, wie Jugendliche sich einfach im Internet beliebige Stellen raussuchen: Wie Legobausteine nehmen sie sich hier ein Argument und dort ein Argument und setzen die dann neu zusammen, bauen ein neues Gebäude - ihren "Lego-Islam".
Zum Teil wissen die Jugendlichen auch gar nicht, worauf sie sich berufen. Das ist schon äußerst interessant, wenn man aus islamwissenschaftlicher-theologischer Perspektive beobachten kann, wie sich eine Jugendgruppe so bar jeglicher theologischer Kenntnisse ihr Weltbild erstellt - und mit welcher Inbrunst sie denkt, dass das, was man sich selbst rausgesucht hat, auch richtig sei.
Interne Diskussionen über Gewalt
tagesschau.de: Gibt es ein Beispiel, an dem Sie das festmachen können?
Michael Kiefer: Zum Beispiel wird die Frage lange diskutiert, ob man gegen die Ungläubigen Gewalt anwenden darf. Das diskutieren die rauf und runter. Der eine sagt dann: Ich hab mal einen Prediger gesehen, der hat gesagt, es gibt einen Schutzvertrag, das heißt man darf hier keine Gewalt begehen. Ein anderer sagt: Nein, das stimmt gar nicht, wir müssen sehen, dass diese Gesellschaft sehr feindselig ist gegenüber den Muslimen und überhaupt den Muslimen auf der Welt.
Wieder ein anderer meint dann: Es gibt da auch eine Stelle im Koran, wo das so steht. Aber diese Stelle kennt er nicht so genau, er hat das nur mal gelesen. Das wird dann falsch dargestellt und so geht das hin und her bis die Gruppe beschließt: Wir leben hier unter Ungläubigen und Gewalt ist durchaus legitim.
tagesschau.de: Was ist neu im Vergleich zu dem, was wir bislang wissen?
Michael Kiefer: Neu ist, wie wenig religiöse Kenntnis da drin steckt. Das hätte ich nicht für möglich gehalten. Ich dachte immer, jemand, der für sich die Entscheidung trifft, ich werde Dschihadist, der hat schon mehr Islamkenntnis im Gepäck. Das ist bei dieser Gruppe nicht so. Diese Gruppe schafft sich ihr Gepäck selbst auf den Rücken.
tagesschau.de: Wie hat die Radikalisierung der Jugendlichen funktioniert? Gab es einen Punkt, wo sie gekippt sind?
Michael Kiefer: Man muss wissen, dass der Plan zum Anschlag schon bestand, bevor es diese Gruppe gab. Das Protokoll ist ein Begleitphänomen. Was man sagen kann, ist, dass in der Gruppe zum Ende ein Schließungsprozess zu beobachten ist, eine Abschottung. Die werden immer misstrauischer gegenüber allen anderen, auch gegenüber Muslimen.
Prävention muss über die Schulen laufen
tagesschau.de: Was muss jetzt passieren? Wie können Ihre Erkenntnisse in Maßnahmen verarbeitet werden?
Michael Kiefer: Eine Forderung, die man aufstellen kann, ist, dass wir uns in unserer Präventionsarbeit nicht so sehr auf die Moscheegemeinden fokussieren. Bei diesen Jugendlichen zum Beispiel hätten die Moscheegemeinden gar nichts tun können, weil die sie gar nicht mehr erreichen konnten. Das bedeutet, dass man die Präventionsorte ausbauen muss, wo man die Jugendlichen antreffen kann - und das ist in erster Linie die Schule.
Das heißt, die Schule ist der wichtigste Präventionsort. Hier muss man die pädagogischen Akteure stärken, Lehrer und Schulsozialarbeiter, und für Radikalisierung sensibilisieren. Zudem muss man die sozialen Medien ganz stark im Auge behalten, denn das ist scheinbar das wichtigste Rekrutierungswerkzeug. Es ist nicht mehr die Koranverteil-Aktion auf der Straße, die das Feld aufmacht für junge Menschen, sondern es sind Akteure im Internet.
tagesschau.de: In NRW will die neue Landesregierung den Islam-Unterricht ausweiten. Ist das ein Schritt in die richtige Richtung?
Michael Kiefer: Die These steht ja im Raum, dass eine profunde religiöse Bildung eine immunisierende Wirkung haben kann. Insofern ist die Landesregierung in Nordrhein-Westfalen gut beraten, den islamischen Religionsunterricht auszubauen.
Das Interview führte Tobias al Shomer, WDR