Die Langspielplatte wird 75 Ist der Vinyl-Boom zu Ende?
Die Vinyl-Schallplatte wird heute 75 Jahre alt. Doch ausgerechnet zum Jubiläum droht Katerstimmung. Viele in der Branche sind sicher: Das Wachstum der vergangenen Jahre ist vorbei.
Eine "Weltsensation" hat Edward Wallerstein, Chef der Firma Columbia Records, für den 21. Juni 1948 im Hotel Waldorf-Astoria in New York angekündigt. Vor den versammelten Journalisten legt er eine Schallplatte auf. Schallplatten gibt es seit Jahrzehnten. Doch diese ist anders. Der Klang haut alle vom Hocker: Felix Mendelssohn Bartholdys Violinkonzert in e-Moll, Opus 64, erklingt klar und deutlich wie nie. Columbia nennt die Platte aus dem noch relativ jungen Kunststoff Polyvinylchlorid "Long-playing microgroove record" - kurz: LP. Bereits kurze Zeit später ist sie Branchenstandard.
Seitdem hat die Vinyl-Schallplatte vieles durchgemacht. Höhen und Tiefen. Mal war sie totgesagt, als in den 1990ern die CD der LP den Rang ablief. Zuletzt ging es steil bergauf: Die LP erlebte in den vergangenen Jahren einen regelrechten Boom - weil Musikliebhaber sie als Gegenpol zum digitalen Musikstreaming wiederentdeckten. Doch damit könnte jetzt Schluss sein.
Presswerke leiden unter hohen Kosten
"Der Hype ist vorbei", sagt Patrick Kroehn. Er betreibt in Freiberg am Neckar ein Presswerk - hauptsächlich für kleinere Produktionen, mal 300, mal 500 Exemplare pro Künstlerin oder Künstler. Die Nachfrage sei in den vergangenen Monaten deutlich zurückgegangen. Das habe mehrere Gründe: Zum einen seien die Kosten durch Corona-Pandemie und Energiekrise explodiert. "Die Herstellung einer Schallplatte kostet fast doppelt so viel wie noch vor Corona", sagt Kroehn. Produktionskosten von 16 statt acht Euro pro Stück könnten sich viele seiner Kunden nicht mehr leisten.
Auch Björn Bieber aus Pforzheim beobachtet eine gewisse Unruhe in der Branche. Er hat lange ein "Ein-Mann-Presswerk" in seiner Garage betrieben, dieses aber 2021 eingestellt. Einer der Gründe: In der Branche sei es irgendwann nur noch ums Geld gegangen. "Viele haben gar nicht verstanden, worum es bei dem Medium Vinyl eigentlich geht", sagt er. Für ihn bedeute Vinyl Herzblut, Leidenschaft, Subkultur. Doch plötzlich seien Menschen ins Geschäft eingestiegen, um mit dem Hype Geld zu machen. "Das werden die ersten sein, die insolvent gehen", sagt Bieber.
"Der Markt ist übersättigt"
Denn die Auftragslage sei längst nicht mehr so gut. Vielerorts stünden die Pressen sogar still, nachdem noch in den vergangenen Jahren viele neue Presswerke eröffnet hätten. Auch die langen Wartezeiten in der Produktion sind vorbei. Bis vor kurzem hatten selbst große Stars wie Adele oder James Blake die Veröffentlichung ihrer neuen Alben wegen des Staus in den Presswerken verschieben müssen.
Mittlerweile sei aber jede erfolgreiche Platte der vergangenen Jahrzehnte zigfach neu aufgelegt worden, die großen Plattenfirmen hätten ausgeschlachtet, was ging. "Der Markt ist übersättigt", sagt Bieber. Bislang sei es aber eher eine Krise der Hersteller. Der Musikkonsument werde weiterhin Langspielplatten kaufen.
Verkäufe 2022 wieder gesunken
Die Frage ist: Wie lange noch macht die Kundschaft mit? Denn die Hersteller geben die gestiegenen Produktionskosten natürlich weiter. Rainer Rupp betreibt in Stuttgart einen der renommiertesten Plattenläden Deutschlands, mit einem großen Angebot an gebrauchten und neuen Schallplatten. Vor allem bei der Neuware beobachte er, dass die Kunden zurückhaltender werden. "Eine einfache Platte kostet mittlerweile schon mal über 40 Euro", erzählt Rupp. "Das wird nicht lange gut gehen."
Ein Indiz dafür könnten auch die aktuellen Absatzzahlen von Vinyl sein: Laut Bundesverband Musikindustrie sind die Verkäufe 2022 zum ersten Mal seit vier Jahren wieder zurückgegangen - um 200.000 Stück auf jetzt 4,3 Millionen verkaufte Vinyl-Tonträger. Das sind zwar immer noch deutlich mehr als auf dem Tiefpunkt 2006, als es gerade einmal 300.000 Stück waren. Bei 1,6 Milliarden digitalen Musik-Streams und Downloads ist aber auch klar: Nur nach Umsatzerlösen betrachtet war Vinyl nie raus aus der Nische.
Klimabilanz könnte immer wichtiger werden
Und noch etwas könnte die Branche in den kommenden Jahren verstärkt treffen. Durch das gesteigerte Umweltbewusstsein der Menschen ist auch die LP verstärkt in den Fokus von Umweltschützern gerückt. Denn PVC, der Grundstoff für die Schallplatte, besteht hauptsächlich aus Erdöl. Zudem ist die Produktion energieaufwendig und CO2-intensiv.
Auch die Entsorgung von Schallplatten kann problematisch sein. "Zwar ist PVC generell recyclebar", sagt Michael Jedelhauser vom Naturschutzbund NABU. Trotzdem seien entsorgte Schallplatten aus Kostengründen bislang meistens in Verbrennungsanlagen geendet. Immerhin: Auf dem Markt gibt es immer mehr Hersteller, die mit Schallplatten aus recyceltem PVC werben. Doch die Produktion steckt noch in den Kinderschuhen und könnte durch die drohende Krise im Keim erstickt werden.
"Geschichte wiederholt sich", sagt Björn Bieber in Pforzheim, den gerade vieles an den ersten Einbruch in den 1990ern erinnert. Doch die Krise könne auch Gutes bewirken: Die Subkultur könne sich die Vinylschallplatte vielleicht zurückholen, wenn der Hype vorbei ist. Sein Kollege Patrick Kroehn in Freiberg sieht das ähnlich: "Sterben wird die Vinyl nie. Aber sie wird wieder mehr zur Nische werden." Doch das hat die LP in ihrer 75-jährigen Geschichte ja schon öfter erlebt.