Neue Tarifrunde Stahlarbeiter wollen die Vier-Tage-Woche
Heute starten die Tarifverhandlungen in der Stahlindustrie. Dabei steht die Arbeitszeit im Vordergrund: Die IG Metall will eine Vier-Tage-Woche durchsetzen. Arbeitgeber befürchten noch mehr Fachkräftemangel.
Mit 35 Stunden ist die Wochenarbeitszeit in der Stahlindustrie schon heute niedriger als in vielen anderen Branchen. Geht es nach den Gewerkschaften, soll sie aber noch weiter sinken. Sie fordern eine 32-Stunden-Woche mit Lohnausgleich, was in vielen Fällen auf eine Vier-Tage-Woche hinauslaufen würde.
Kürzere Arbeitszeit gegen den Fachkräftemangel?
In Zeiten des Fachkräftemangels treiben solche Forderungen den Arbeitgebern Sorgenfalten ins Gesicht. Wenn schon jetzt nicht genug Arbeitskräfte zur Verfügung stehen, wie soll es dann erst werden, wenn kürzer gearbeitet wird?
Die IG Metall dreht diese Argumentation um. Aus Sicht der Gewerkschaft würde die Branche durch kürzere Arbeitszeiten attraktiver werden und könnte so mehr Fachkräfte für sich gewinnen.
Zentraler Streitpunkt ist dabei die Frage, ob künftig mehr oder weniger Arbeitskräfte in der Stahlindustrie gebraucht werden. Denn die Branche steht vor großen Umbrüchen. "Durch die Transformation, etwa die Umstellung von Koks auf Wasserstoff, wird langfristig weniger Arbeit benötigt", heißt es von der IG Metall.
Der Arbeitgeberverband Stahl argumentiert genau umgekehrt. Aufgrund der Transformation hin zu "grünem" Stahl brauche es mehr Fachpersonal. Eine Verkürzung der Arbeitszeit würde den Unternehmen diese "dringend benötigte zusätzliche Arbeitskraft" entziehen, so die Befürchtung.
Arbeitnehmer haben stärkere Verhandlungsposition
Zusätzlich zur 32-Stunden-Woche verlangen die Gewerkschaften in den Tarifverhandlungen 8,5 Prozent mehr Lohn. Aus Sicht des Arbeitsmarktexperten Dominik Groll sind die Forderungen Ausdruck der gestiegenen Verhandlungsmacht auf Seiten der Arbeitnehmer: "Jetzt können sie Forderungen durchsetzen, die sie vor zehn oder 15 Jahren nicht durchsetzen konnten", sagt Groll, der am Kiel Institut für Weltwirtschaft (IfW) forscht. Das werde mit Blick auf die demografische Situation, also die alternde Bevölkerung und das Fehlen von Arbeitskräften, auf absehbare Zeit so bleiben.
Hinzu kommen zwei Besonderheiten in der Branche, so Thorsten Schulten, Tarifexperte am Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut (WSI), das den Gewerkschaften nahe steht. "Langfristig gesehen werden in der Stahlindustrie wahrscheinlich weniger Beschäftigte gebraucht, außerdem sind kürzere Arbeitszeiten dort bereits gelebte Praxis", sagt Schulten.
Nach Zahlen der IG Metall arbeiten schon jetzt mehr als ein Drittel der Beschäftigten in der Stahlindustrie weniger als 35 Stunden pro Woche, verzichten dabei aber auf Entgelt. "Ohne Lohnausgleich ist eine Arbeitszeitverkürzung gerade jetzt bei hoher Inflation nicht sehr attraktiv", findet Schulten.
Auswirkungen auf andere Branchen?
Aufgrund dieser Besonderheiten lasse sich die Situation in der Stahlindustrie nicht direkt auf andere Branchen übertragen, so der Tarifexperte. Trotzdem hält Schulten eine Symbolwirkung für möglich: "Wenn es in der Stahlindustrie tatsächlich zu einer Vier-Tage-Woche kommen würde, würde das auch auf andere Branchen ausstrahlen."
IfW-Forscher Groll weist allerdings darauf hin, dass der Fachkräftemangel insgesamt bestehen bleiben werde, auch wenn sich einzelne Branchen durch besonders attraktive Arbeitszeiten einen Vorteil im Wettbewerb um Arbeitskräfte verschaffen sollten. "Was in einer einzelnen Industrie funktionieren kann, funktioniert nicht unbedingt auch gesamtwirtschaftlich", so Groll. Er warnt vor einem Wohlstandsverlust, wenn flächendeckend weniger gearbeitet werden sollte.
Die Tarifparteien der nordwest- und ostdeutschen Stahlindustrie sitzen heute zum ersten Mal zusammen. Hitzig könnte es bereits im Dezember werden, ab dann sind Warnstreiks möglich, in denen die Gewerkschaften ihre gestiegene Macht demonstrieren könnten.