"Generation Y" in China Leben statt immer nur arbeiten
Auch wegen der langjährigen Ein-Kind-Politik ist der Leistungsdruck auf junge Menschen in China groß. Doch manche entziehen sich den hohen Erwartungen - durch bewusstes Nichtstun.
Shanghai, größte Metropole Chinas, ist Symbol des Fortschritts, des wirtschaftlichen Höher, Schneller, Weiter. Zhao Yuanqi wollte unbedingt hierher. Sie ist eine selbstbestimmte, ambitionierte junge Frau, hat im Ausland in Manchester studiert - und ist prädestiniert für eine gute Anstellung in Chinas Wirtschafts- und Finanzzentrum Shanghai.
Seit vier Jahren lebt sie nun hier direkt im Zentrum und arbeitet als Headhunterin, das heißt sie vermittelt Fach- und Führungskräfte an Unternehmen - und das mindestens 72 Stunden die Woche. Oft sitzt Zhao Yuanqi bis zwei Uhr nachts im Büro. Als 29-Jährige verdient sie vergleichsweise viel Geld. Doch wofür? Plötzlich fällt ihr auf: Sie arbeitet, ohne jemals gelebt zu haben.
"Tangping" heißt das Lebensmodell
"Ich sollte das Gefühl haben, etwas erreicht zu haben, aber es scheint, dass ich nichts erreicht habe", sagt Zhao Yuanqi. "Was ist der Sinn und der Wert der ganzen Arbeit, außer dass ich Geld verdiene?" Deshalb hat sie an einem Freitag entschieden, zu kündigen - fristlos. Sie will einfach mal entspannen. Flachliegen. Auf Chinesisch "Tangping". Vielleicht eine Woche, vielleicht zwei Monate - und solange von ihren Ersparnissen leben.
"Jetzt kann ich so viel essen, wie ich will, kann Fernsehsendungen sehen und muss nicht mehr so ängstlich sein", sagt sie. "Jetzt kann ich morgens bis spät in die Nacht schlafen, so lange ich will, ich bin so glücklich."
Genug von der Werbebranche
Xu Xiaoyi, eine andere junge Frau, verbringt ihre Zeit gerne in einem kleinen Kunstatelier. Die 34-Jährige hat gerade ein kleines Fotobüchlein fertig gestellt mit Fotografien, die sie selbst in der Dunkelkammer entwickelt hat. Davor hat sie viel gemalt - vor allem abstrakt auf Leinwand mit Ölfarben. Und sie hat gelernt, Skulpturen zu modellieren. Seit zwei Jahren geht Xu Xiaoyi ihrer Muse nach, sie ist neugierig - sucht das, was sie erfüllt. Ihr eigentlicher Beruf hatte das verfehlt. Von der Werbebranche hatte sie die Nase voll.
Für Xu Xiaoyi bedeutet "Tangping" nicht, einfach nichts zu tun. Sie selbst ist sehr aktiv, wissbegierig, interessiert, will in verschiedenen Kunstkursen und -projekten ihren Horizont erweitern. Manch andere liegen beim "Flachliegen" tatsächlich nur im Bett, manche lassen sich von ihren Eltern aushalten und bekochen. Wieder andere arbeiten ein bisschen weiter, ohne sich dabei zu überanstrengen.
Manifest gegen die Konsumgesellschaft
Wie genau man "Tangping" ausgestaltet, beschreibt sie als etwas Individuelles, jeder mache das auf seine eigene Art und Weise. Deshalb benutzt sie den Begriff eigentlich nicht. "Ich weiß, wie der Zustand anderer Menschen ist, die flachliegen. Ich verstehe sie", sagt Xu Xiaoyi. "In der Tat verstehe ich nicht, nach welchem Sinn andere Menschen streben, die nur arbeiten und nicht flachliegen."
"Tangping" - das Phänomen begann im Frühjahr 2021 im chinesischen Internet mit einem Blogeintrag über "Flachliegen als Gerechtigkeit". Ein ehemaliger Fabrikmitarbeiter beschrieb darin, wie er sein Leben geändert hat. Er kündigte seinen Job, fuhr mehr als 2000 Kilometer mit dem Fahrrad durch China und lebte von seinen Ersparnissen und kleineren Jobs. Im Netz feierten einige junge Erwachsene seinen Lebensentwurf als ein Manifest gegen die vom Konsum getriebene Gesellschaft und das Höher, Schneller, Weiter der chinesischen Wirtschaft.
Auch mit der Ein-Kind-Politik in China hat "Tangping" zu tun. Seit 1979 sind in China hauptsächlich Einzelkinder zur Welt gekommen. Sie sind besonderem Druck der Gesellschaft ausgesetzt. Allen voran dem Druck der eigenen Eltern: Das einzige Kind muss das beste sein. Im Kindergarten, in der Schule, bei der Karriere. Dafür investieren die Eltern bis heute viel Geld in die Förderung ihrer Kinder und in Nachhilfe.
Viel Geld für private Kurse
Zhou Xiaohui ist die Mutter eines Sechsjährigen. Der Junge wird in wenigen Monaten eingeschult. Seit zwei Jahren nimmt er neben dem Kindergarten noch Klavier-, Kunst-, Schwimm- und Englischunterricht. Dazu kommen Hausaufgaben, die er auf seinem eigenen Tablet erledigen kann. "Mein Kind kann jetzt zum Beispiel 40 Lieder auf dem Klavier spielen, aber dann sagt eine andere Mutter, dass ihr Sohn schon 60 Lieder spielen kann", sagt Zhou Xiaohui. "Dann löst das sehr viel Druck in mir aus, weil andere Kinder mehr erreichen."
Dass ihr Sohn so viele Aktivitäten und Lehrer neben dem Kindergarten hat, lässt sich die Familie viel kosten. "Wir geben eine Menge Geld für seine Kurse aus. Ein Malkurs kostet 300 Renminbi pro Stunde. Zwei Schwimmkurse pro Woche kosten mehr als 400 Renminbi. Zwei Englischstunden pro Woche kosten mehr als 500 Renminbi", erzählt die Mutter. 500 Renminbi entsprechen ungefähr 67 Euro. "Der Zeitdruck kommt noch obendrauf. Wir müssen ihn zu diesen Kursen begleiten. Er ist zu jung, um allein zu gehen. Mein Mann und ich wechseln uns ab, um mit ihm zu gehen."
Umgerechnet fast 1000 Euro im Monat gibt die Familie für die verschiedenen Kurse ihres Sohnes aus. Obwohl die Ein-Kind-Politik in China vor sechs Jahren aufgehoben wurde, können und wollen sich viele Paare in China kein zweites Kind leisten. Viele Kinder bleiben Einzelkinder. Die Probleme der Ein-Kind-Politik lasten daher weiter auf der Gesellschaft. Der Leistungsdruck bleibt, in der Schule, im Kindergarten - und später im Job.