Interview zur EU-Wachstumsstrategie "Brüssel kann die Ziele kaum durchdrücken"
EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso will mit der "Europa 2020"-Strategie die 27 Länder der Europäischen Union auf den Wachstumspfad führen. Carsten Hefeker, Professor für Europäische Wirtschaftspolitik, ist skeptisch, ob das gelingt. Die Regierungen würden wieder Ausreden finden, um manche Vorgaben nicht umsetzen zu müssen, sagt er im Gespräch mit tagesschau.de.
tagesschau.de: Die "Europa 2020"-Strategie muss noch von den Staats- und Regierungschefs genehmigt werden. Die haben die Lissabon-Strategie damals auch gebilligt - warum ist die gescheitert?
Carsten Hefeker: Auch damals wollte man die Beschäftigungsquote steigern, auch damals sollten die Ausgaben für Forschung und Entwicklung angehoben werden. Was jetzt dazu gekommen ist, sind im Wesentlichen die Klimaschutzziele. Aber die Reformen, die vielleicht in den Sozialsystemen und beim Arbeitsmarkt nötig gewesen wären, um eine höhere Beschäftigung zu erreichen, sind schon beim Lissabon-Plan eigentlich nicht gekommen. Sie waren in den einzelnen Staaten besonders schwierig umzusetzen. Auch die Mehrausgaben für Forschung und Entwicklung waren angesichts knapper Kassen relativ schwierig durchzusetzen. Und genau das wird auch wieder das Problem in der zweiten Runde sein: dass man wieder nicht in der Lage sein wird, diese relativ ehrgeizigen Ziele durchzudrücken.
tagesschau.de: Halten Sie die von Barroso vorgegebenen Ziele für richtig?
Hefeker: Angesichts des demografischen Wandels führt natürlich kein Weg daran vorbei, die Beschäftigungsquote zu steigern. Europa liegt da im Vergleich mit anderen Regionen der Welt wie den USA oder auch Japan hinten. Und bei den Ausgaben für Forschung und Entwicklung liegt Europa im internationalen Vergleich auch relativ weit hinten. Das erklärt, warum es nicht gelungen ist, Europa zum wettbewerbsfähigsten Raum der Welt zu machen - das war ja 2000 bei der Lissabon-Strategie das Ziel.
Carsten Hefeker (geboren 1964) ist Professor für Europäische Wirtschaftspolitik an der Universität Siegen in Nordrhein-Westfalen. Zugleich arbeitet er als Research Fellow am Hamburgischen Weltwirtschaftsinstitut (HWWI). Er studierte in Hannover und Konstanz und hat unter anderem über die europäischen Arbeitsmärkte geforscht.
tagesschau.de: Barroso hat die Überprüfung der einzelnen Länder angekündigt und droht mit Verwarnungen. Hilft das?
Hefeker: Die Erfahrungen zeigen ja eher, dass es nicht funktioniert - also gerade in Bereichen wie Wirtschaftspolitik und Bildung. Immer dort, wo die Mitgliedsstaaten das Gefühl haben, sie sind selber zuständig, da pochen sie mehr oder weniger auf ihre Zuständigkeiten. Ich glaube nicht, dass die Kommission da tatsächlich Druck ausüben kann. Das ist wie in anderen Bereichen auch - Brüssel kann die Staaten nur dazu drängen, etwas zu tun. Auf dem Gipfel wird man sich sicherlich darauf einigen, die 2020-Ziele so zu verabschieden, wie Barroso sie formuliert hat. Die Frage ist nur: Kann man die Mitgliedsstaaten darauf festnageln? Bislang war es eher so, dass sich immer wieder Ausreden finden ließen.
tagesschau.de: Barroso droht Ländern, die die EU-Ziele nicht einhalten, mit Verwarnungen - ähnlich wie beim Stabilitätspakt?
Hefeker: Erstens glaube ich nicht, dass es soweit kommen wird. Aber gerade beim Wachstums- und Stabilitätspakt sehen wir, dass sich die EU-Staaten immer eine Hintertür offen halten. Da werden Sanktionen einfach politisch gestoppt. Man wird auch hier höchstens ein bisschen Druck über die Öffentlichkeit ausüben können.
Die EU-Staats- und Regierungschefs haben sich 2000 auf die Lissabon-Strategie geeinigt. Sie setzten sich das Ziel, die EU bis 2010 zum "wettbewerbsfähigsten und dynamischsten" Wirtschaftsraum der Welt zu machen. Wettbewerb, technologischer Wandel und die alternde Bevölkerung machten das nötig. Bei einer Halbzeitbilanz 2005 wurde klar, dass die EU die angestrebte Beschäftigungsquote von 70 % sowie einen 3-Prozent-Anteil der Ausgaben für Forschung und Entwicklung am Bruttoinlandsprodukt nicht erreicht.
tagesschau.de: Ist Europa auf dem Weg zu einer europäischen Wirtschaftsregierung?
Hefeker: Außer in Bereichen wie Landwirtschaft und Handel kann Brüssel nicht so stark eingreifen. Bei Steuern und Finanzen ist es im wesentlichen bei nationalen Zuständigkeiten geblieben. Da von einer gemeinsamen Wirtschaftsregierung zu reden, wäre wohl ziemlich verfehlt. Ich bin ziemlich überzeugt davon, dass das in absehbarer Zeit nicht kommen wird. Dafür sind die Länder viel zu unterschiedlich, wenn man etwa Großbritannien und Dänemark mit Deutschland vergleicht: Die haben grundverschiedene Arbeitsmarkt- und Sozialsysteme.
Das Interview führte Johannes Wagemann für tagesschau.de