Wall Street legt zu Kurseinbruch vorerst gestoppt
Es war keine Trendwende, aber ein kleines Hoffnungszeichen. Dies- und jenseits des Atlantiks konnten die Aktienmärkte wieder Boden gut machen. Das entschlossene Vorgehen der Fed störte dabei nicht.
Die Kursreaktion der Wall Street mag vielen paradox erscheinen. Sie zeigt aber einmal mehr, wie sehr die Marktteilnehmer in schwierigen Zeiten Klarheit schätzen. So kletterten die Kurse, nachdem die US-Notenbank Federal Reserve (Fed) im Protokoll ihrer jüngsten Sitzung ein klares Bekenntnis zu weiteren deutlichen Zinserhöhungen abgegeben hatte. Aus dem um 20.00 Uhr veröffentlichten Protokoll geht die Absicht hervor, den Leitzins auf der nächsten Sitzung Ende Juli um 0,50 oder sogar erneut um 0,75 Prozentpunkte anzuheben. Der Standardwerteindex Dow Jones legte nach der Veröffentlichung deutlich zu. Am Ende blieb noch ein Plus von 0,23 Prozent.
Die zinssensitiveren Technologietitel des Nasdaq 100 legten um 0,35 Prozent zu.
Viele Fed-Vertreter sahen ein "erhebliches Risiko" einer sich verfestigenden Inflation, falls die Öffentlichkeit an der Entschlossenheit der Notenbank zweifle. Auf der Juni-Sitzung hatte die Fed den Leitzins so kräftig angehoben wie seit 1994 nicht mehr. Sie beschloss eine Erhöhung um 0,75 Prozentpunkte auf die Spanne von 1,50 bis 1,75 Prozent. In dem Protokoll wird das Risiko einer Rezession nicht explizit erwähnt. Doch die meisten Währungshüter räumten ein, dass die Konjunktur-Risiken nach unten gerichtet seien.
Zuvor war der Einkaufsmanagerindex des Dienstleistungssektors etwas besser ausgefallen als erwartet. Der Index des Institute for Supply Management (ISM) fiel zum Vormonat zwar auf 55,3 Punkte, den niedrigsten Wert seit Mai 2020. Volkswirte hatten im Schnitt aber mit einem Rückgang auf 54,0 Punkte gerechnet.
Am deutschen Aktienmarkt fiel die Erholung noch deutlicher aus. Der DAX verabschiedete sich mit einem Plus von 1,6 Prozent aus dem Handelstag. Damit holte der deutsche Leitindex aber nur gut die Hälfte der gestrigen Verluste auf. Bisher muss man also noch von einer "technischen Reaktion" sprechen, die dadurch entsteht, dass erste Marktteilnehmer auf dem erreichten Kursniveau Einstiegschancen sehen. Um ein erstes Entspannungssignal zu senden, müsste der DAX schnellstmöglich das alte Verlaufstief von Ende Juni bei 12.619 Punkten zurückerobern, meinen die Marktexperten der HSBC.
Die Erholung wurde von erfreulichen Konjunkturdaten flankiert. So hat die deutsche Industrie im Mai wieder etwas mehr Aufträge erhalten. Gegenüber April erhöhten sich die Bestellungen um 0,1 Prozent, wie das Statistische Bundesamt mitteilte. Es war der erste Anstieg nach drei Monaten mit Rückgängen. Analysten hatten eigentlich mit einem weiteren Minus von 0,5 Prozent gerechnet. Der Rückgang im Vormonat wurde von 2,7 auf 1,8 Prozent korrigiert. Im Vergleich zum Vorjahresmonat gingen die Aufträge im Mai um 3,1 Prozent zurück.
Der Euro konnte sich nach seinem gestrigen Kursrutsch kaum stabilisieren. Die Europäische Gemeinschaftswährung notierte am späten Abend knapp unter 1,02 Dollar und damit auf einem neuen 20-Jahres-Tief. Ein konjunktureller Einbruch in der Eurozone wird auch am Devisenmarkt für immer wahrscheinlicher gehalten - dazu kommt die Entschlossenheit der Fed, die den Dollar stützt.
Die Ölpreise standen unter Druck. Erstmals seit Ende April fiel der Preis für ein Barrel (159 Liter) der Nordseesorte Brent zeitweise wieder unter die Marke von 100 Dollar. Zuletzt hatten die anhaltenden Konjunktursorgen die Rohstoffnotierungen gedrückt. Der Markt wurde zudem von der Nachricht überrascht, dass der Generalsekretär der Organisation erdölexportierender Staaten (OPEC), Mohammed Barkindo, im Alter von 63 Jahren gestorben ist. Das bestätigte ein Sprecher des nigerianischen Ölministeriums der Nachrichtenagentur AP. Der Nigerianer Barkindo leitete das Ölkartell seit August 2016 und begleitete es durch einige seiner turbulentesten Zeiten.
Stärkster DAX-Titel war die Aktie des Essenslieferanten HelloFresh. Sie profitierte laut Marktbeobachtern von der Kooperation des Konkurrenten Just Eat Takeaway mit Amazon. Im Rahmen der Vereinbarung können Kunden von Amazon Prime ein Jahr lang kostenlos die Dienste des zu Just Eat gehörenden Essenslieferdienstes Grubhub nutzen. Zudem kann Amazon Anteile an Grubhub erwerben. Mit der Vereinbarung zwischen Just Eat und Amazon kommt nun offenbar wieder Übernahmefantasie in die Branche.
Auch Delivery Hero im MDAX legten wegen der Vereinbarung von Just Eat und Amazon zunächst deutlich zu. Dann wurde aber bekannt, dass die EU-Wettbewerbshüter die Büros des Essenslieferdienstes in Berlin durchsucht haben. Man arbeite vollumfänglich mit der EU-Kommission zusammen, teilte das international tätige Unternehmen dazu mit. Die Durchsuchungen bedeuteten nicht, dass Delivery Hero tatsächlich gegen Wettbewerbsrecht verstoßen habe. Zuvor hatte die EU-Kartellbehörde erklärt, verschiedene Essens- sowie Lebensmittellieferdienste in zwei EU-Ländern wegen des Verdachts der Kartellbildung durchsucht zu haben. Es wurden weder Namen noch Länder genannt.
Ein noch zuversichtlicherer Ausblick auf das laufende Geschäftsjahr ließ am Nachmittag die Metro-Aktie anspringen. Der Großhandelskonzern rechnet nun beim Umsatz mit einem Wachstum von rund 17 bis 22 Prozent, nachdem er das Ziel Ende April bereits auf neun bis 15 Prozent angehoben hatte. Auch für das operative Ergebnis ist der Konzern optimistischer. Das Geschäft hab sich im dritten Geschäftsquartal 2021/22 besser entwickelt als erwartet, so Metro. Dies sei auf eine Kombination aus steigender Inflation und starkem Momentum im Bereich Hotels, Restaurants & Caterer zurückzuführen
Nach den Reifenherstellern Michelin und Nokian prüft auch der deutsche Autozulieferer Continental einen Rückzug aus Russland. "Wir beobachten die aktuellen Entwicklungen sehr genau und evaluieren kontinuierlich alle uns zur Verfügung stehenden Optionen", erklärte der DAX-Konzern. Dies beinhalte auch die Option eines kontrollierten Rückzugs. Bei den Erwägungen blieben die Mitarbeiter ein wichtiger Gesichtspunkt. Sollte sich Conti zum Rückzug entscheiden, hätte dies keine Auswirkungen auf die Geschäftsprognose, erläuterte ein Sprecher. Die Effekte würden aus der Bilanz herausgerechnet.
Als erster westlicher Hersteller hatte Michelin gestern erklärt, seine Aktivitäten in Russland bis Ende des Jahres an eine lokale Gesellschaft zu übertragen. Zu der Entscheidung der Unternehmen dürfte beigetragen haben, dass Russland ein Gesetz vorbereitet, das es Moskau erlauben soll, Vermögenswerte ausländischer Unternehmen zu beschlagnahmen und strafrechtliche Sanktionen zu verhängen, wenn sie das Land wegen des Krieges in der Ukraine verlassen wollen.
Eine von "Buy" auf "Sell" komplett umgekehrte Empfehlung der Analysten von Hauck & Aufhäuser lastete auf der Adidas-Aktie. Analyst Christian Salis schrieb von Druck auf die Margen im zweiten Quartal, der ein Erreichen der Jahresziele zunehmend infrage stelle. Kurzfristig habe sich die Stimmung der Verbraucher eingetrübt. Das Unternehmen könne sich den konjunkturellen Entwicklungen nicht gänzlich entziehen.
Der Bioethanol-Hersteller CropEnergies hat im ersten Quartal seines Geschäftsjahres 2022/23 den Umsatz von 214 auf 399 Millionen Euro gesteigert, das operative Ergebnis legte von 15 auf 87 Millionen Euro zu. Die Ethanolproduktion lag mit 281.000 Kubikmetern ebenfalls deutlich über dem Vorjahr. Der Hauptgrund für das außerordentlich verbesserte Ergebnis waren Preissicherungen für Rohstoffe und Energie, die bereits vor Beginn des Ukraine-Krieges vorgenommen worden waren.
Erleichtert reagierten Investoren auf die Zahlen von Bang & Olufsen. Der Anbieter von HiFi-Anlagen erfüllte mit einer operativen Marge von 1,7 Prozent und einem Umsatz von umgerechnet 396 Millionen Euro im abgelaufenen Geschäftsjahr die Markterwartungen. Die angepeilte Gewinnspanne von minus zwei bis plus drei Prozent sei zudem besser als befürchtet, so Analyst Per Hansen vom Brokerhaus Nordnet. Die drohende Rezession könnte Bang & Olufsen allerdings einen Strich durch die Rechnung machen.
Das Biotechunternehmen Evotec hat mit dem französischen Wettbewerber Biomerieux und dem Pharmakonzern Boehringer Ingelheim ein Gemeinschaftsunternehmen gegründet. Die unter Aurobac Therapeutics SAS firmierende Firma soll sich auf die Entwicklung von Wirkstoffen zur Bekämpfung von antimikrobiellen Resistenzen (AMR) konzentrieren. Ziel sei es, AMR als eine massive Bedrohung der öffentlichen Gesundheit zu besiegen. Multiresistente Keime können für Patienten in Krankenhäusern nach Routineeingriffen lebensbedrohlich werden und schwere Komplikationen auslösen.