Debatte über neue Verfassung Abstimmen über Europa - jetzt oder übermorgen?
Mehr Europa - das heißt mehr Macht für Brüssel: Gemeinsame Wirtschaftspolitik, ein EU-Finanzminister, weniger nationalstaatliches Kleinklein. Bundesfinanzminister Schäuble rechnet damit, dass bald das Volk darüber abstimmen wird. Die Kanzlerin jedoch bremst: Das sei ein "Schritt von übermorgen".
Europa muss enger zusammenwachsen, vor allem wirtschaftlich, um künftige Euro-Krisen zu verhindern. Mehr Europa - dafür werben denn auch die Befürworter der Idee einer vertieften Integration Europas. Dazu müssten die Nationalstaaten weitere Kompetenzen an Brüssel abgeben. Ziel ist eine gemeinsame Wirtschaftspolitik, ein EU-Finanzminister, eine Bankenunion.
De facto haben die Staaten schon jede Menge Kompetenzen an Brüssel abgegeben - aus Sicht von Kritikern schon über das Maß des im Grundgesetz Erlaubten hinaus. Sowohl die Linkspartei als auch Ex-Justizministerin Herta Däubler-Gmelin wollen gegen Fiskalpakt und ESM klagen, weil sie die Kontrollrechte des Bundestags verletzt sehen. Auch der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Andreas Voßkuhle, äußerte sich im September skeptisch, ob weitere EU-Integrationsschritte mit dem Grundgesetz vereinbar sind.
Finanzminister Schäuble nimmt die Warnungen der Verfassungsrechtler ernst. Im Nachrichtenmagazin "Spiegel" plädierte er offen wie selten zuvor für eine Volksabstimmung über eine neue Verfassung, die eine weitere Integration Europas erlaubt. Wenn immer mehr Souveränität nach Brüssel übertragen werde, seien irgendwann die Grenzen des Grundgesetzes erreicht, so Schäuble. Einen Zeitpunkt für einen Volksentscheid nannte Schäuble nicht. Er gehe jedoch "davon aus, dass es schneller kommen könnte, als ich es noch vor wenigen Monaten gedacht hätte".
Die Kanzlerin bremste ihren Finanzminister. Angela Merkel machte klar: Die wachsende Machtfülle der EU will sie nicht durch eine schnelle Volksabstimmung in Deutschland absichern lassen. Das sei eher ein Schritt von "übermorgen", ließ sie über Regierungssprecher Steffen Seibert mitteilen. Schäuble sei ein europäischer Vordenker. "Aber an dem Punkt sind wir derzeit eindeutig noch nicht." In der Grundausrichtung hin auf eine stärkere Integration Europas teile die Bundeskanzlerin die Überlegungen des Finanzministers.
Die politische Debatte ist da
Dennoch: Schäuble hat mit seinem Vorstoß eine politische Debatte ausgelöst. Die Linkspartei forderte prompt eine Volksabstimmung zum Fiskalpakt. Zuspruch erhielt Schäuble vom rheinland-pfälzischen Ministerpräsidenten Kurt Beck, von Ex-Finanzminister Peer Steinbrück, von Bundesbankpräsident Jens Weidmann. Schäubles CDU-Kollegen sowie der Koalitionspartner FDP reagierte zurückhaltend. Generalsekretär Hermann Gröhe sagte, bis zur Bundestagswahl 2013 komme es wohl nicht zu Vorhaben, die den Verfassungsrahmen überschreiten - und damit eine Volksabstimmung nötig machen würden. FDP-Generalsekretär Patrick Döring kann sich einen Volksentscheid zwar grundsätzlich vorstellen, mit Blick auf die EU warnt er aber vor einem zu schnellen Tempo. Seine Partei befürworte jedoch schon länger Volksentscheide auf Bundesebene. Dazu sei jedoch eine Grundgesetzänderung notwendig.
Grenzen des Grundgesetzes
Das Grundgesetz ist "europarechtsfreundlich": Es erlaubt, dass Deutschland Kompetenzen an die Europäische Union abgibt. Allerdings gibt es Grenzen. Im Urteil über den EU-Vertrag von Lissabon 2009 entschied das Bundesverfassungsgericht: Ein Mindestmaß an Kompetenzen muss in Deutschland bleiben. Für den Beitritt zu einem europäischen Bundesstaat wäre eine neue Verfassung nötig.
"Eine Abstimmung über eine neue Verfassung wäre eine große Chance für Deutschland und für Europa", meint der Justiziar der Linksfraktion im Bundestag, Wolfgang Neskovic. "Damit würde nachgeholt, was bei der Wiedervereinigung in Deutschland 1990 insbesondere den Menschen aus der ehemaligen DDR verweigert wurde: Dem Volk die Möglichkeit zu geben, über eine neue gemeinsame Verfassung zu entscheiden."
Gipfelthema in Brüssel
Beim EU-Gipfel in Brüssel Ende der Woche steht das Thema Integration ebenfalls auf der Tagesordnung. Ratspräsident Herman Van Rompuy, Euro-Gruppen-Chef Jean-Claude Juncker, Kommissionspräsident José Manuel Barroso und der Chef der Europäischen Zentralbank, Mario Draghi, wollen ihr Konzept für eine integrierte Finanz- und Wirtschaftspolitik präsentieren. Sie zielen auf vier Bereiche: eine Bankenunion mit gemeinsamer Bankenaufsicht und Einlagensicherung, direkte Kompetenzen des Euro-Rettungsschirms ESM bei der Bankenrettung, ein gemeinsames Altschuldenmanagement und eine Finanztransaktionssteuer.