Interview

Interview mit Börsenexperte Lehmann "Die Politik macht den Boten zum Buhmann"

Stand: 07.07.2011 16:37 Uhr

Portugal auf Ramschniveau - und die Politik ist empört. Über die Macht der drei US-Ratingagenturen schimpft zum Beispiel Finanzminister Schäuble. Zu Unrecht, wie der ehemalige ARD-Börsenexperte Frank Lehmann im Interview mit tagesschau.de sagt: "Die Ratingagenturen machen nur ihren Job."

tagesschau.de: "Wir müssen das Oligopol der Ratingagenturen brechen." Das sagt nicht irgendwer, sondern der deutsche Finanzminister Wolfgang Schäuble. Warum gelingt das nicht? Der Gesetzgeber hat es doch selbst in der Hand, wie viel Macht er den Ratingagenturen gibt?

Frank Lehmann: Bislang hat sich ja jeder arrangiert mit den großen Drei - also Standard & Poor's, Moody's und Fitch. Man hat zwar auch furchtbar gejammert, als nach der ersten Finanzkrise klar wurde, dass Lehman-Zertifikate kurz vor der Pleite der Bank mit der Bestnote bewertet wurden. Aber niemand hat gesagt: Wir müssen die drei Agenturen einstampfen.

tagesschau.de: Die Politik hat die Chance vertan?

Lehmann: Sie hat kein Konzept. Die Ratingagenturen bestätigen im Grunde nur, was die Märkte, also die Investoren, längst wissen. Den Agenturen jetzt einen Vorwurf zu machen, weil sie der Überbringer schlechter Nachrichten sind, ist politisch verständlich. Aber ökonomisch ist es Unsinn. Die Ratingagenturen machen ihren Job. Das sind Technokraten, die gehen rein formalistisch vor, nicht politisch. Das politische Denken ist nicht ihr Job und dafür werden sie auch nicht bezahlt.

Zur Person

Frank Lehmann ist deutscher Wirtschaftsjournalist mit Schwerpunkt Börse. Ab 1989 moderierte er regelmäßig die Börsen-Berichterstattung in der ARD. Von November 2000 bis Ende Dezember 2006 war einer der Moderatoren der Sendung Börse im Ersten in der ARD. Frank Lehmann ist verheiratet und hat drei Kinder.

tagesschau.de: Und die Politik macht nicht ihren Job, weil sie den Agenturen freie Hand lässt?

Lehmann: Die Politik macht die Ratingagenturen zum Buhmann, weil sie kein Konzept hat. Jetzt hat sie die Idee einer europäischen Ratingagentur: Um Gottes Willen! Bloß keine staatliche Ratingagentur! Das geht schief, und das hat sich mittlerweile herumgesprochen.

Die Investoren im Blick

tagesschau.de: Aber es passt doch wirklich nicht zusammen: Da schnürt die Politik immer neue Hilfsspakete mit milliardenschweren Garantien und die Ratingagenturen stufen die Länder dennoch herab.

Lehmann: Die Ratingagenturen müssen die Investoren im Auge haben, nicht die Politik oder die Bevölkerung eines Landes. Die Investoren verlangen von den Ratingagenturen, dass sie rechtzeitig darauf hingewiesen werden, wenn ihre Investitionen nicht wie vereinbart zurückgezahlt werden. Als sie das Programm zur Rettung Griechenlands gelesen und gesehen haben, dass die Beteiligung privater Gläubiger geplant ist, wussten sie: Das ist nicht mehr im Sinne des Investors. Wir müssen ihn warnen. Daher die Abstufung. Welche Schlüsse er daraus zieht, ist seine Sache. Aber die Aufregung der Politik ist unbegründet.

In der ersten Finanzkrise versagt

tagesschau.de: Moment mal. Die Ratingagenturen haben in der ersten Finanzkrise komplett versagt und giftige Immobilienpapiere mit Bestnoten geadelt. Ihrer Glaubwürdigkeit hat das offenbar nicht geschadet, sonst hätten sie nicht diese unglaubliche Macht...

Lehmann: Das passt schon zusammen. Bei Lehmann Brothers und den anderen Pleitebanken waren es komplexe neue Produkte, die sie trotz dünner Datenbasis bewertet haben. Daraus kann man ihnen einen Vorwurf machen und den akzeptieren sie auch. Bei einem Staat haben sie aber eine Fülle von Daten. Eine Staatenkrise oder ein Staatenboom können sie daher ganz anders bewerten, als ein brandneues Produkt, das gerade auf den Markt gekommen ist. Es ist doch absurd: Die Politik macht den Ratingagenturen jetzt ihren Weitblick zum Vorwurf, den sie in der ersten Finanzkrise vermissen ließen.

tagesschau.de: Sie verteidigen die Ratingagenturen trotz ihres Komplettversagens 2007/2008?

Lehmann: Ja, eine ungewohnte Rolle. Ja, sie haben damals völlig versagt, aber es hat sich niemand beschwert. Jetzt aber, wo die Ratingagenturen schlechte Noten vergeben, ist der Aufschrei der Politik groß.

"Die Politik hat sich mit den großen Drei arrangiert"

tagesschau.de: Aber es kann doch nicht sein, dass drei Ratingagenturen mit Sitz in New York die Politik Europas und der ganzen Welt bestimmen und Regierungen vor sich hertreiben.

Lehmann: Die Politik hat sich noch jahrelang nicht beklagt, sondern sich mit den großen Drei arrangiert. Nach dem Motto: Die sind führend, die haben die Kompetenz.

tagesschau.de: Zur Erinnerung: Es handelt sich um drei US-amerikanische Ratingagenturen. Sie bewerten gnadenlos die Euro-Krise und fassen die USA - selbst im Schuldensumpf - mit Samthandschuhen an. Oder?

Lehmann: Stimmt nicht. Sie haben die USA - immerhin die größte Volkswirtschaft der Welt - mit Ausblick negativ bewertet. Das ist zum ersten Mal passiert. Das heißt, wenn die USA so weiter machen und ihre Schulden nicht mehr bezahlen können, dann wird die größte Volkswirtschaft der Welt heruntergestuft. Aber: Im Unterschied zu Europa steht ein Zahlungsausfall der US-Wirtschaft nicht vor der Tür.

tagesschau.de: Dennoch: Die Macht der Ratingagenturen ist unbestritten. Hat die Politik Möglichkeiten diesen Einfluss zu begrenzen? Und wie?

Lehmann: Der Internationale Währungsfonds oder die Europäische Zentralbank sind so eine Institution. Wenn die so arbeiten und regelmäßig solche Warnschüsse abgeben würden, dann würden die Ratingagenturen in dem Fluss dieser Institutionen schwimmen und ebenfalls ihr Urteil abgeben. Das hat aber weder der IWF noch die EZB getan.

tagesschau.de: Ratingagenturen machen ihren Job, der IWF oder die EZB nicht?

Lehmann: Intern machen IWF und EZB schon ihren Job. Da haben sie natürlich alle ihre Bewertungsmechanismen. Sie glauben doch nicht, dass die EZB im Hinterstübchen nicht auch weiß, dass Griechenland zahlungsunfähig ist, wenn das so weiter geht? Sie geben die Bewertungen aber nicht raus, weil sie nicht gezwungen sind. Eine Ratingagentur ist aber per Satzung gezwungen, auf eine neue Datenlage zu reagieren und ein Urteil zu fällen. Um die Investoren darauf hinzuweisen, die sich ja auf die rechtzeitigen Warnschüsse der Ratingagenturen zu verlassen. Wenn sie das nicht tun, kann der Investor den Vertrag kündigen und die Agentur sogar verklagen.

tagesschau.de: Mit anderen Worten: Würden IWF und EZB ihren Job machen, bräuchten wir die Ratingagenturen nicht?

Lehmann: Genau so ist es! Aber die Politik hat sich auf so einen TÜV eingelassen.

tagesschau.de: IWF und EZB sind in der Euro-Krise selbst mit im Boot. Der IWF mit Kreditgarantien, die EZB hat selbst Griechenland-Anleihen gekauft. Neutrale Bewertungen sind doch so unmöglich.

Lehmann: Klar, die sind befangen. Deswegen haben sie ja auch keine Glaubwürdigkeit bei den Investoren. Und das ist auch ein Grund, warum sich Schäuble oder Merkel auch nicht so weit raushängen: Sie meckern alle über die Ratingagenturen und prügeln auf sie ein, aber konstruktive Lösungen, um die Macht der großen Drei zu brechen - das haben sie auch nicht.

tagesschau.de: Kann die Politik nicht einfach sagen: Wir hören nicht auf die Ratingagenturen?

Lehmann: Das macht sie ja schon. Merkel stellt sich hin und appelliert an die Investoren, doch bitte auf IWF, EZB und EU-Kommission zu vertrauen. Die Investoren werden einen Teufel tun! IWF und EZB sind befangen, zudem machen sie ihre Bewertungen nicht öffentlich. Vielleicht sollte der IWF diese Praxis mal ändern. Dann gefährdet er allerdings die Länder, die er unter seiner Obhut hat und finanziert. Irgendwo sind eben immer Interessen mit im Spiel.

Das Interview führte Wenke Börnsen, tagesschau.de