Interview

Interview mit dem Arbeitsmarktexperten Karl Brenke Wie sich der Mindestlohn umgehen lässt

Stand: 20.11.2013 17:44 Uhr

Die Idee eines gesetzlichen Mindestlohns klingt verlockend: Keiner verdient weniger als 8,50 Euro pro Stunde. Doch wäre das tatsächlich so? Nein, sagt DIW-Experte Karl Brenke gegenüber tagesschau.de. Und erklärt, wie Arbeitgeber die Regelung umgehen könnten.

tagesschau.de: Mehr als 80 Prozent der Deutschen sprechen sich in Umfragen für einen flächendeckenden Mindestlohn aus. Im Gespräch sind 8,50 Euro. Wie viele Menschen arbeiten denn derzeit in Deutschland für Niedriglöhne?

Karl Brenke:  Wenn man Auszubildende und Praktikanten herausrechnet, dann kommt man auf knapp sechs Millionen Arbeitnehmer, die weniger als 8,50 Euro pro Stunde bekommen.

Zur Person

Karl Brenke studierte Soziologie, VWL und Statistik an der Freien Universität Berlin. Seit 1985 arbeitet er als Arbeitsmarktexperte am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung.

tagesschau.de: Für welchen Stundenlohn arbeiten die Betroffenen denn im Moment durchschnittlich?

Brenke: Die Löhne der Niedrigverdiener liegen aktuell um 30 bis 40 Prozent unter 8,50 Euro. Der Sprung wäre also erheblich.

Problem 1: unbezahlte Überstunden

tagesschau.de: Wenn Arbeitgeber 30 bis 40 Prozent mehr als bislang zahlen müssten, würden doch vermutlich viele versuchen, einen festgelegten Mindestlohn zu umgehen.

Brenke: Ja natürlich. Zumal sie sich dadurch auch Wettbewerbsvorteile verschaffen können. Eine Möglichkeit für Arbeitgeber, Mindestlöhne zu umgehen, sind beispielsweise unbezahlte Überstunden.

tagesschau.de: Wie funktioniert das?

Brenke: Offiziell werden die Mindestlohnregelungen eingehalten, die Arbeitnehmer bekommen auf dem Papier 8,50 Euro je Stunde. Doch intern werden dann Stunden abgerechnet, die nicht 60 Minuten dauern, sondern 70 oder 80. Schon jetzt leisten rund eine Million Geringverdiener Mehrarbeit, die nicht bezahlt wird.

"Bürokratischer Aufwand wäre gigantisch"

tagesschau.de: Und wie ließe sich das verhindern?

Brenke: In den USA beispielsweise, wo es Mindestlöhne gibt, müssen Arbeitgeber Beginn und Ende der Arbeitszeit genau festhalten, die müssen alles dokumentieren. Und dann bedarf es umfassender Kontrollen. Hierzulande bräuchte man entweder eine zusätzliche Behörde oder man greift auf bestehende Einrichtungen wie den Zoll oder die Agentur für Arbeit zurück. Dort muss überwacht werden, ob die Mindestlohnregelung eingehalten wird. Soviel ist sicher: An diesen Stellen schafft der Mindestlohn Arbeitsplätze.

tagesschau.de: Das bedeutet also alleine an diesem Punkt einen gigantischen bürokratischen Aufwand.

Brenke: Der bürokratische Aufwand wird erheblich sein - zum einen für den Staat, der überwachen muss, zum anderen für die Arbeitgeber, die alles dokumentieren müssen.

Problem 2: Werkverträge

tagesschau.de: Gibt es für Arbeitgeber weitere Möglichkeiten, einen gesetzlichen Mindestlohn zu umgehen?

Brenke: Sie könnten beispielsweise reguläre Arbeitsverträge durch Werkverträge austauschen.

tagesschau.de: Was meint der Begriff Werkvertrag genau?

Brenke: Nehmen Sie beispielsweise die Reinigung eines Büros. Das wird bisher nach Stundenlöhnen entgolten. Dann kommt ein verbindlicher Mindestlohn und der Arbeitgeber sagt: Das möchte ich nicht mehr. Stattdessen vergebe ich den Auftrag per Werkvertrag an meinen früheren Arbeitnehmer. Und der hat dieses Werk zu erfüllen, und in welcher Arbeitszeit er das schafft, das ist mir völlig egal, denn der Arbeitnehmer ist ja jetzt ein Selbständiger. Faktisch wäre der natürlich nicht selbstständig, sondern von dem einen Arbeitgeber allein abhängig.

Und es gibt noch ein weiteres Problem, das auch geregelt werden muss: Eine erhebliche Zahl von Arbeitgebern hat überhaupt gar keine Arbeitszeitvereinbarungen mit den Arbeitnehmern. Die bekommen also beispielsweise einen Stücklohn.

Problem 3: Bezahlung von Stücklohn

tagesschau.de: Fällt Ihnen ein Beispiel ein?

Brenke: Ein gutes Beispiel ist der Zeitungsausträger. Der wird nicht nach der Zeit bezahlt, die er zum Verteilen braucht, sondern nach der Zahl der Zeitungen, die er austrägt. Ein typischer anderer Fall ist der angestellte Taxifahrer, der nicht seine Arbeitszeit entgolten bekommt, sondern stattdessen am Umsatz beteiligt wird.

tagesschau.de: Können Sie in etwa einschätzen, wie viele Niedriglöhner derzeit davon betroffen sind?

Brenke: In etwa eine weitere Million an Geringverdienern.

"Da ist der Gesetzgeber gefragt"

tagesschau.de: Wäre theoretisch denn auch folgendes Vorgehen möglich: Ich habe ein Postunternehmen, und meine Briefträger werden bisher nach Stundenlohn bezahlt. Dann kommt der Mindestlohn und ich stelle einfach mein System um und sage: Ab sofort bekommt ihr eine festgelegte Summe pro ausgetragenem Brief?

Brenke: Denkbar wäre das. Die Frage ist: Wie sehen die gesetzlichen Regelungen aus, wenn ich Mindestlöhne einführe? Sind solche Arbeitszeitmodelle dann vielleicht gar nicht mehr erlaubt? Der Gesetzgeber muss einfach dafür sorgen, dass die Umgehungsmöglichkeiten für Arbeitgeber möglichst stark eingeschränkt werden. Es wird nicht damit getan sein, einfach einen Mindestlohn zu beschließen, sondern es kommt auf die praktische Umsetzung an.

K. Brenke, DLF, 21.11.2013 09:38 Uhr

"Ich würde mit sieben Euro anfangen"

tagesschau.de: Nehmen wir mal an, der Gesetzgeber verhindert all diese Möglichkeiten, die Sie gerade genannt haben. Drohen dann noch weitere Gefahren?

Brenke: Die entscheidende Frage ist die Höhe des Mindestlohns. Diese 8,50 Euro sind ja irgendwie einfach so festgelegt worden, das ist ja politisch begründet und nicht wissenschaftlich fundiert. Wenn der Mindestlohn zu hoch ist, droht die Gefahr, dass Arbeitsplätze verloren gehen. Ich sehe die Einführung von Mindestlöhnen als Experiment. Und bei einem Experiment scheint es mir sinnvoll, mit einer niedrigen statt einer hohen Dosis zu beginnen. Man könnte also eine niedrige Lohnuntergrenze setzen, gucken, was passiert - und wenn es dann nicht zu nennenswerten Beschäftigungsverlusten kommt, kann man den Mindestlohn ja erhöhen.

tagesschau.de: Welche Höhe halten Sie für angemessen?

Brenke: Ich würde vielleicht mit sieben Euro anfangen.

Das Interview führte Sarah Welk, tagesschau.de.