Energiekrise Erstes Steinkohlewerk soll wieder ans Netz
Für die Stromerzeugung soll nicht mehr so viel Erdgas eingesetzt werden. Daher dürfen neuerdings auch Steinkohlekraftwerke vorübergehend wieder ans Netz. Eine Anlage in Niedersachsen macht offenbar den Anfang.
Ein erstes Steinkohlekraftwerk aus der Reserve soll demnächst wieder angefahren werden. Es handelt sich um das Kraftwerk Mehrum im niedersächsischen Hohenhameln (Landkreis Peine) zwischen Hannover und Braunschweig, wie die Bundesnetzagentur in Bonn nach Angaben der Nachrichtenagentur dpa mitteilte. Es sei bislang die einzige "Marktrückkehr" eines Kraftwerks, die der Bundesnetzagentur angezeigt worden sei.
Seit dem 14. Juli erlaubt eine Verordnung, dass Steinkohlekraftwerke aus der sogenannten Netzreserve wieder in Betrieb gehen können, um Erdgas einzusparen. Im Juni lag der Erdgas-Anteil an der Stromerzeugung in Deutschland laut Bundesnetzagentur bei 11,2 Prozent. Die Verordnung der Bundesregierung erlaubt den Stromverkauf aus Reservekraftwerken, die mit Steinkohle oder Öl befeuert werden, bis Ende April 2023.
Lindner fordert Ende von Stromerzeugung mit Gas
Um die Stromerzeugung aus Gas hatte sich am Wochenende eine Kontroverse innerhalb der Bundesregierung entwickelt. Finanzminister Christian Lindner forderte, diese zu stoppen. "Wir müssen daran arbeiten, dass zur Gaskrise nicht eine Stromkrise kommt", sagte der FDP-Vorsitzende der "Bild am Sonntag". "Deshalb darf mit Gas nicht länger Strom produziert werden, wie das immer noch passiert." In Richtung des Bundeswirtschaftsministers sagte Lindner: "Robert Habeck hätte die gesetzliche Ermächtigung, das zu unterbinden."
Ein Sprecher Habecks wies darauf hin, dass ein völliger Verzicht auf Gas im Stromsektor zur Stromkrise und Blackouts führe. "Es gibt systemrelevante Gaskraftwerke, die mit Gas versorgt werden müssen. Bekommen sie kein Gas, kommt es zu schweren Störungen. Das ist leider die Realität des Stromsystems, die man kennen muss, um die Versorgungssicherheit herzustellen." Da, wo Gas aber in der Stromerzeugung ersetzt werden könne, solle es ersetzt werden - und daran werde längst mit Hochdruck gearbeitet.
Neben der bereits gültigen Verordnung für Steinkohle- und Öl-Kraftwerke wird für Anfang Oktober auch eine Verordnung für das Wiederanfahren von bereits stillgelegten Braunkohlekraftwerken vorbereitet. Hinzu kommt eine Gaseinsparverordnung, die die unnötige Verstromung von Erdgas verhindern soll. "Die Verordnung wird aktuell vorbereitet und tritt dann in Kraft, wenn sich abzeichnet, dass noch mehr Gas bei der Stromerzeugung eingespart werden muss", hatte das Wirtschaftsministerium am 21. Juli mitgeteilt.
Strom für mehr als eine halbe Million Haushalte
Das Kraftwerk Mehrum befindet sich seit Anfang Dezember 2021 in der Reserve, wie die Kaufmännische Leiterin der Betreibergesellschaft, Kathrin Voelkner, der dpa sagte. "Wir haben die Rückkehr an den Strommarkt erklärt. Wir gehen davon aus, dass wir kurzfristig ans Netz zurückkehren." Das Kraftwerk hat eine Nettoleistung von 690 Megawatt. 2018 erzeugte es so viel Strom, dass damit theoretisch mehr als eine halbe Million Musterhaushalte mit Strom versorgt werden konnten.
Das Kraftwerk gehört dem tschechischen Energiekonzern EPH. Über die geplante Rückkehr von Mehrum an den Strommarkt hatte zuvor die "Braunschweiger Zeitung" berichtet. Das Wiederanfahren für mehrere Monate ist für Kraftwerksbetreiber wirtschaftlich interessant, weil die Strom-Großhandelspreise derzeit hoch sind. Gleichzeitig ist ausreichend Steinkohle auf dem Weltmarkt vorhanden. Mit der Maßnahme soll Erdgas aus dem Strommarkt verdrängt werden.
Weitere Kraftwerke vor der Rückkehr
Wieder mehr Strom verkaufen will auch der Essener Energiekonzern Steag. Man habe die "feste Absicht", mit 2300 Megawatt Erzeugungsleistung in den Markt zurückzukehren, sagte Unternehmenssprecher Markus Hennes. Auch das Düsseldorfer Energieunternehmen Uniper prüft die Rückkehr seiner Reserveanlagen mit einer Leistung von insgesamt mehr als 2000 Megawatt in den Markt. Noch sei aber keine Entscheidung gefallen, sagte Sprecher Oliver Roeder.
Der Karlsruher Energiekonzern EnBW will seine fünf Reservekraftwerke nicht zurück an den Markt bringen, da sie aus Altersgründen nicht mehr ununterbrochen laufen könnten. Unabhängig von den EKBG-Sonderregelungen will das Unternehmen vor dem Hintergrund der russischen Invasion in der Ukraine und der aktuellen Entwicklung auf dem Gasmarkt jetzt aber einen Kohleblock in Karlsruhe mindestens bis Ende des Winters 2023/24 weiterlaufen lassen. Ursprünglich wollte EnBW im Zuge des Kohleausstiegs diesen Block im Sommer 2022 zur Stilllegung anmelden.