Ein halbes Jahr nach der Übernahme Wie sich Twitter unter Elon Musk verändert hat
"Der Vogel ist befreit", twitterte Elon Musk vor sechs Monaten. Ende Oktober 2022 übernahm der Tech-Milliardär den Kurznachrichtendienst - und chaotische Wochen folgten. Wie steht die Plattform heute da?
Es fängt an mit einem Waschbecken. Elon Musk betritt Ende Oktober die Twitter-Zentrale in San Francisco. Er trägt ein Waschbecken in die Lobby. Davon postet er ein Video und schreibt: "Let that sink in" - ein Wortspiel, das einerseits im übertragenen Sinne bedeutet: "Zieht euch das rein", aber streng wörtlich mit "Lasst das Waschbecken rein" übersetzt wird. Von den Beschäftigten finden das nicht alle witzig, viele müssen kurz nach diesem Tweet gehen.
Das Personal
Ein Großteil der Belegschaft ist entlassen worden. Vor der Übernahme arbeiteten weltweit rund 7500 Menschen bei Twitter, jetzt sollen es noch 1500 sein. Das hat Musk in einem BBC-Interview Mitte April gesagt.
Ehemalige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter beklagen die Umstände der Entlassungen; viele werden ohne Vorwarnung aus ihren Programmen ausgeloggt. Eine Gruppe aus der Belegschaft verklagt Twitter, weil Kündigungsfristen, die der Bundesstaat Kalifornien vorschreibt, nicht eingehalten wurden.
Die Technik
In den vergangenen Monaten gab es viele technische Fehler, Ausfälle, Pannen. Viele Mitarbeiter, die für die technische Wartung der Plattform zuständig waren, sind entlassen worden. Zusätzlich hat Musk immer wieder technische Neuerungen gefordert, die schnell und ohne ausführliche Tests eingeführt wurden.
Die Redefreiheit
Sie ist das große Thema von Elon Musk: Weil er die Redefreiheit bei Twitter als bedroht ansah, habe er die Plattform übernommen, gab er an. Für ihn umfasst freedom of speech auch extreme Positionen. Tausende Accounts, die zuvor wegen Hassrede oder sonstigen Verstößen bei Twitter gebannt wurden, sind wieder online.
Das prominenteste Twitter-Konto ist das von Donald Trump; der hat allerdings seit seiner Freischaltung noch nicht wieder gewittert. Trump bevorzugt seinen eigenen Kurznachrichtendienst, die Plattform Truth Social.
Content-Moderation finde seit der Übernahme gar nicht mehr oder kaum noch statt, berichten ehemalige und aktuelle Beschäftigte. Die Folge - das belegen verschiedene Untersuchungen - sind Falschinformationen, Hassrede, antisemitische und extremistische Posts. Sie haben im vergangenen halben Jahr zugenommen. Im BBC-Interview hat Musk das allerdings bestritten.
Die blau-weißen Häkchen
Der kleine Haken wurde ursprünglich eingeführt, um die Echtheit von Accounts zu markieren. Es sollte sofort klar sein: Dieser Prominente, diese Politikerin, dieses Medium, dieses Polizeipräsidium sind echt. Die Häkchen waren nicht käuflich.
Fast alle ursprünglich verliehenen Häkchen wurden aber kürzlich entfernt. Jeder kann jetzt eins haben und muss dafür bezahlen: Privatpersonen rund zehn Euro im Monat, Unternehmen bekommen ein goldenes Häkchen für monatlich rund 1000 Euro.
Das eigentliche Problem: Es wird nicht mehr zuverlässig überprüft, ob der Account tatsächlich echt ist. Es sind immer wieder Fake-Accounts aufgetaucht, die falsche Informationen verbreitet haben. Behörden, Ministerien oder Regierungsmitglieder werden mit einem grauen Häkchen gekennzeichnet, die nicht käuflich sind.
Das Geld
Unterstützt von Investoren hat Musk im September 44 Milliarden Dollar für Twitter bezahlt. Der Wert des Unternehmens hat sich mittlerweile halbiert. Technische Ausfälle, rassistische oder hetzerische Tweets und Unsicherheit durch Fake-Accounts sind kein gutes Umfeld für Werbeanzeigen. Große Firmen wie Volkswagen oder General Motors haben ihre Ausgaben bei Twitter pausiert.
Twitter veröffentlicht keine offiziellen Zahlen mehr, doch die Werbeeinnahmen sind Marktbeobachtern zufolge stark zurückgegangen. 2023 sollen sie laut einer Analyse von "Insider Intelligence" um 28 Prozent niedriger liegen als im Vorjahr. Zusätzlich drohen hohe Kosten durch diverse Gerichtsverfahren.
Gleichzeitig gibt es offenbar nur wenige, die für Twitter-Häkchen bezahlen wollen. Prominenten wie dem Schriftsteller Stephen King oder dem Basketballer Le Bron James wurde es unfreiwillig verliehen. Die wehren sich sogar dagegen, wollen nicht als mutmaßlich zahlende Unterstützer von Musk wahrgenommen werden.
Helfen könnten Elon Musk ausgerechnet Accounts, die erst wegen Hassrede gesperrt und nach seiner Übernahme wieder reaktiviert wurden. Sie erreichen teilweise Millionen Menschen. Die Non-Profit-Organisation "Center for Countering Digital Hate" hat ausgerechnet, dass zehn dieser reichweitenstärksten Accounts Werbeeinnahmen von rund 19 Millionen Dollar pro Jahr bringen.
Die Glaubwürdigkeit
An Ansehen hat Twitter extrem verloren - und das nicht nur wegen der chaotischen Häkchen-Entscheidungen. Zwischenzeitlich wurden Accounts der BBC oder des US-Radio-Netzwerks NPR irreführenderweise als "staatlich finanziert" markiert. Diese Hinweise wurden mittlerweile wieder abgeschafft. NPR benutzt Twitter seitdem aber nicht mehr, weil das Netzwerk seine Glaubwürdigkeit in Gefahr sah.
Die Bundesregierung sei besorgt und beobachte die Situation, sagte eine Regierungssprecherin in Berlin. Auch viele deutsche Medien sind weiter bei Twitter. Presseanfragen werden seit Wochen mit einer automatisierten E-Mail beantwortet. Sie enthält nur ein Zeichen: das Kothaufen-Emoji.
Die Zukunft
Twitter unter Musk hat ein chaotisches halbes Jahr erlebt. Vor allem die Entscheidungen rund um die Häkchen haben viel Vertrauen verspielt; Twitter wirkt zunehmend unzuverlässig. Noch sind viele Nutzer da. Alternativplattformen wie Mastodon sind zwar gewachsen, im Vergleich zu Twitter aber immer noch relativ klein. Der große, von vielen befürchtete Knall blieb zwar bisher aus - Twitter funktioniert grundsätzlich noch.
Es weist aber bisher wenig darauf hin, dass Musk seinen chaotischen Führungsstil ändern wird. Deshalb steht Twitter aktuell ziemlich wackelig da. Beobachter vergleichen den Dienst unter Musk gelegentlich mit einem Schiff, das ganz langsam untergeht. Entscheidend wird sein, wann normale User, Politiker, Behörden und Medien in die Rettungsboote springen.