Ehemaliger Topmanager Der tiefe Fall des Utz Claassen
Utz Claassen, ehemaliger Top-Manager, wollte mit seiner Implantate-Firma Syntellix Weltmarktführer werden. Doch der große Erfolg bleibt aus. Stattdessen ermittelt die Staatsanwaltschaft.
Utz Claassen gilt lange als genialer Manager. Rekordabitur mit 17, Notenschnitt 0,7. Erst ist er Vorstand bei Seat, dann steht er an der Spitze des Pharma-Unternehmens Sartorius, schließlich saniert er den Energieriesen EnBW. Er ist gut vernetzt mit Politik und Wirtschaft, arbeitet auch als Berater für die Bundesregierung.
Mit seinem Startup Syntellix will er das nächste "Tesa" oder "Tempo" werden - nur eben für die Medizinbranche: Er verkauft Implantate aus einer speziellen Magnesium-Legierung, die sich im Körper langsam in Knochen verwandelt und so teure Nachoperationen überflüssig machen soll. Bekannte Investoren wie der ehemalige Deutsche-Bank-Vorstand Jürgen Fitschen, Multi-Unternehmer Rolf Elgeti oder Carsten Maschmeyer stecken Millionen in Syntellix.
Utz Claassens Fall von ganz oben beginnt etwa zeitgleich mit der Corona-Pandemie. Krankenhäuser operieren nur noch wenig - ein Problem für Claassens Implantate-Firma. Die Umsätze brechen ein. Als das Geld offenbar knapp wird, zahlt Claassen seinen Mitarbeitern erst immer später das Gehalt, und hört dann ganz auf. Das geht aus Unterlagen hervor, die Panorama 3 und Süddeutscher Zeitung (SZ) vorliegen.
Zahlungsausfälle und erste Zweifel
"Zuerst mussten wir bei den Lieferanten priorisieren, wer jetzt bezahlt wird", berichtet ein ehemaliger Mitarbeiter, der aus Angst anonym bleiben möchte. Später seien auch ihre Gehälter immer unpünktlicher gekommen und schließlich ganz ausgeblieben. Statt Antworten darauf, wann das Gehalt endlich komme, sei nur auf den nächsten Investor verwiesen worden. "Dann haben wir festgestellt: Wir als Syntellix können unseren Verpflichtungen in den nächsten drei Wochen gar nicht nachkommen. Dann sind wir doch insolvent - warum macht keiner was?"
Panorama 3 und SZ sprechen mit vielen ehemaligen Mitarbeitern, Geschäftspartnern und Investoren. Utz Claassen sei ein Narzisst, aber er könne alles verkaufen. Weil sie an das Produkt glauben und weil Claassen überzeugend ist, warten viele Mitarbeitende lange, bis sie handeln.
Claassen vor Gericht
2022 klagen sie vor dem Amtsgericht Hannover auf ihr Gehalt. Es geht um rund 1,3 Millionen Euro in insgesamt 174 Vollstreckungsverfahren: Gehälter, aber auch Krankenkassenbeiträge oder offene Rechnungen. Die Mitarbeitenden erhalten am Amtsgericht zwar Recht - aber Claassen zahlt nicht.
Er erscheint auch nicht zu Vollstreckungsterminen. Er sei krank, lässt er ausrichten. Das reicht dem Amtsgericht nicht, es erlässt Haftbefehle gegen ihn. Erfolglos: Denn Claasen lebt längst nicht mehr in Deutschland. "Der Haftbefehl scheitert an den internationalen Grenzen", erklärt Laurin Osterwold, Sprecher des Amtsgerichts. Sobald jemand im Ausland lebe, sei es "äußerst schwierig, diesem habhaft zu werden".
Ermittlungen bis nach Singapur
Seit einigen Jahren lebt Claassen in Südostasien. Die Produktion für die Syntellix-Implantate hat er nach Singapur verlagert. Mehrfach sucht der NDR deren Standort auf. Syntellix-Büros gibt es dort, aber eine laufende Produktion ist nicht zu finden. Und auch in Singapur ermitteln die Behörden. Denn Claassen hat seine Mitarbeitenden dort erst nach behördlichem Einschreiten bezahlt.
Claassen will allerdings von Ermittlungen in Singapur nichts wissen. Die Produktion laufe "exzellent", und die fehlenden Gehälter in Deutschland seien mit den Mitarbeitern abgesprochen gewesen. Er nennt das "Liquiditätsopfer". Und er betont mehrfach, alle gegen die Syntellix AG und ihn gerichteten Vorwürfe seien unzutreffend. Claassen sieht sich als Opfer einer langjährigen "Marodierungs-, Diffamierungs- und Vernichtungskampagne".
Und so überzieht er das Amtsgericht in Hannover mit Dienstaufsichtsbeschwerden. Er zeigt die Gerichtspräsidentin an, droht ihr mit einer Amtshaftungsklage und veröffentlicht Pressemitteilungen, in denen er dem Gericht unter anderem den "Weltrekord gerichtlicher Fehlleistungen" attestiert. Laut Gerichtssprecher Osterwold sind das "Einschüchterungsversuche", die nur zum Ziel hätten, die Verfahren zu verzögern und "interne Abläufe zum Erliegen zu bringen". Claassen wolle damit ablenken "von dem eigentlichen Thema, den offensichtlichen Zahlungsschwierigkeiten der Syntellix AG". Claassen sieht sich dagegen als Opfer der Justiz.
Machtloses Gericht
Dennoch seien dem Amtsgericht die Hände gebunden, sagt Osterwold. Damit die Gläubiger der Syntellix AG, also zum Beispiel Mitarbeiter, die auf ihr Gehalt warten, ihr Geld bekommen, muss Claassen für die Firma eine Vermögensauskunft abgeben. Doch er erscheint mehrfach nicht zu Terminen, lässt sich entschuldigen - er sei reiseunfähig. "Wenn jemand nicht mitwirkt an der Vermögensauskunft, dann werden die Verfahren eingestellt", sagt Osterwold. "Da können wir auch nicht mehr machen. Wir stehen nicht über dem Gesetz."
Die Syntellix AG hat seit Jahren keine Geschäftszahlen mehr veröffentlicht und auch keine Hauptversammlung für die Aktionäre mehr veranstaltet. Investoren wie Elgeti und Maschmeyer wollten sich zu ihrem Investment nicht äußern. Fitschen ließ eine Anfrage unbeantwortet. Die Staatsanwaltschaft in Hannover ermittelt weiterhin. Aktuell wertet sie die Finanzbuchhaltung aus. Unterdessen hat Syntellix den Firmensitz in Deutschland gewechselt. Es solle in "größere und modernere Räumlichkeiten" gehen, wie Claassen mitteilen ließ. Doch an der neuen Anschrift findet sich nur ein kahles, kleines Mietbüro in einem Co-Working-Space, auf dessen Tisch sich die Post sammelt.