Neue Regeln für Medizinprodukte Versorgung der Patienten in Gefahr?
Eigentlich sollte die neue Medizinprodukte-Verordnung die Patientensicherheit erhöhen. Doch Hersteller und Unternehmen warnen: Es könnten viele Produkte vom Markt verschwinden - mit gefährlichen Folgen.
Medizinprodukte umfassen vieles: von Pflastern über OP-Besteck bis zu Knieimplantaten. Seit Mai ist eine neue EU-Verordnung in Kraft, die die Zulassungskriterien für Medizinprodukte deutlich verschärft hat, um diese sicherer zu machen. Die Verordnung ging direkt in deutsches Recht über. Sie gilt jedoch nicht nur für neue Produkte, die auf den Markt sollen, sondern auch für alle Bestandsprodukte. Bis 2024 müssen die Hersteller ihr komplettes Portfolio neu zertifizieren lassen. Experten schätzen, dass sich die Kosten für die Zulassung verdreifachen, der bürokratische Aufwand sogar verzehnfacht, denn die Hersteller müssen nun deutlich mehr Daten sammeln, Berichte schreiben und für besonders riskante Implantate umfangreiche klinische Studien vorlegen.
Manche Medizinprodukte schon jetzt nicht mehr verfügbar
Mediziner und Unternehmen schlagen Alarm, denn zahlreiche Medizinprodukte sind unter den neuen Bedingungen nicht mehr wirtschaftlich und könnten vom Markt verschwinden - zulasten der Patienten. Besonders betroffen sind kinderchirurgische Instrumente und Implantate, erklärt Oliver Muensterer vom Dr. von Haunerschen Kinderspital der Ludwig-Maximilians-Universität München. Er behandelt viele Babys und Kleinkinder mit seltenen Krankheiten oder Fehlbildungen. Die dafür notwendigen Medizinprodukte werden nur in geringen Stückzahlen benötigt.
Er erlebt bereits, dass wichtige Produkte beispielsweise für Operationen an der Speiseröhre für Kleinkinder nicht mehr erhältlich sind. Für den Mediziner ist das eine Katastrophe. "Eigentlich ist mein Anspruch, meinen Patienten das Allerallerbeste zu geben - aber ich habe es einfach nicht mehr zur Verfügung", sagt er. Als Folge sind manchmal keine minimalinvasiven Operationen mehr möglich. Der Chirurg muss dann offen operieren. Für die kleinen Patienten bedeutet das mehr Schmerzen und längere Krankenhausaufenthalte.
Hoher Aufwand für neue Zertifizierung
Viele Medizintechnikunternehmen stehen vor der großen Aufgabe, ihr gesamtes Produktportfolio in den kommenden drei Jahren nach den neuen Regularien zertifizieren zu lassen. Beim Unternehmen Peter Brehm in Weisendorf in der Nähe von Erlangen sind das 12.000 Artikel. Der Mittelständler produziert Prothesen und dazugehörige Instrumente für Knie, Hüfte und die Wirbelsäule. Viele davon sind lange am Markt etabliert, erfolgreich und bewährt, trotzdem müssen sie neu zugelassen werden. Der personelle und bürokratische Aufwand dafür sei enorm, erklärt der Sprecher der Geschäftsführung, Marc Michel. Deswegen überprüft das Unternehmen nun die komplette Produktpalette. Wenn die Kosten für die Zulassung und die nötige Erhebung von klinischen Daten den Umsatz eines Produktes übersteigen, müsse es eventuell eingestellt werden.
"Ich persönlich finde es schwierig nachzuvollziehen, dass es Produkte, die sich seit Jahrzehnten im klinischen Einsatz bewährt haben, zukünftig nicht mehr geben kann, weil wir die klinischen Daten zum Beispiel gar nicht erheben können", sagt Michel. Insbesondere sehr selten benötigte und verkaufte Medizinprodukte stehen zur Disposition, beispielsweise ein Implantat zur Versteifung eines Kniegelenks.
Bestandsschutz und Ausnahmeregelungen gefordert
Sollten Produkte wie das Versteifungsimplantat wegen der neuen Verordnung vom Markt verschwinden, könnte das die Patientenversorgung in Deutschland gefährden, sagt Dieter Wirtz, Direktor der Klinik für Orthopädie und Unfallchirurgie der Uniklinikum Bonn. Er verwendet das Implantat zehn bis 15 Mal im Jahr, eine echte Alternative gebe es nicht. "Wenn dieses Produkt nicht mehr vorhanden ist, dann müsste man auf Operationsmethoden von vor 20 Jahren zurückgreifen. Die sind schwieriger, die haben ein höheres Risikopotenzial, dass eine Platte beispielsweise brechen kann oder dass der Knochen nicht richtig heilt, und im Extremfall würde das sogar bedeuten, dass der Patient amputiert werden muss." Daher fordern Mediziner und Hersteller Anpassungen am Gesetz.
Eine komplette Rezertifizierung der bestehenden Produkte sei nicht sinnvoll und könnte die Patientensicherheit eher gefährden als verbessern, wenn deshalb Produkte vom Markt verschwänden, sagen Experten. Außerdem brauche man Ausnahmeregelungen für seltene Medizinprodukte, um sicherzustellen, dass auch Produkte mit geringen Verkaufszahlen am Markt bleiben. Doch die verantwortliche EU-Kommission sieht auf Plusminus-Anfrage keinen Grund, zu handeln. Von der Brüsseler Behörde heißt es: "Die neue Medizinprodukte-Verordnung ist Ende Mai reibungslos in Kraft getreten, und die Kommission erwartet, dass die neue Verordnung ein stabiles Umfeld für eine innovative und wettbewerbsfähige Medizintechnik-Industrie in Europa bieten wird."
Wirtschaftsexperten sehen das anders. Die neue Verordnung bedrohe die Existenz vieler kleiner und mittelständischer Medizintechnikunternehmen. Auch künftige medizintechnische Innovationen würden ausgebremst. "Wir werden durch die Medizintechnik-Verordnung nicht nur einen wirtschaftlichen Totalschaden erleiden, sondern auch einen gesundheitlichen Totalschaden", prophezeit Dennis Ostwald, Geschäftsführer des WifOR-Instituts. Sollte die EU die Anforderungen der Verordnung nicht doch noch anpassen, könnte aus dem hehren Ziel von "mehr Patientensicherheit" genau das Gegenteil werden: eine schlechtere Patientenversorgung in Deutschland und Europa.
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