Folgen der Finanzkrise in den USA Gestern Eigenheim, heute Lebensmittelhilfe
Sie hätten nie damit gerechnet und stehen nun vor dem Nichts: Viele US-Amerikaner der Mittelschicht bekommen die Folgen der Finanzkrise am eigenen Leib zu spüren. Täglich werden es mehr. Kritiker fordern deshalb mehr Anstrengungen von der Regierung.
Von Sabine Müller, HR-Hörfunkstudio Washington
In einer Lagerhalle im Nordosten der Hauptstadt Washington zeigt Shamia Holloway von der "Food Bank DC" auf lange Regale, die mit Thunfisch-Dosen, Erdnussbutter-Gläsern und Chicken Nuggets gefüllt sind. Zur Lebensmittelhilfe für sozial Schwache kamen früher nur Obdachlose und die "working poor" - Menschen, die in schlecht bezahlten Jobs schuften und nicht genug Geld für Miete und Essen haben.
"Mittlerweile sehen wir hier auch Leute aus der Mittelklasse, die ihren Job und ihr Haus verloren haben", sagt Holloway. Menschen, die früher Lebensmittel spendeten, stünden heute hier, um sich selbst Nahrungsmittel abzuholen. "Viele sind tief beschämt", sagt Holloway. Sie würden wohl gar nicht kommen, wenn es nicht um ihre Kinder ginge, schätzt sie.
40 Millionen Amerikaner sind inzwischen auf staatliche Lebensmittelunterstützung angewiesen - das ist jeder achte Bürger. Solche Zahlen in einem der reichsten Länder der Erde machen deutlich, dass die Schere zwischen arm und reich in den USA immer weiter aufgeht. In der Mitte bleibt nicht viel übrig.
Aus dem amerikanischen Traum erwacht
Präsident Barack Obama warnt wiederholt: "Die Mittelklasse wird angegriffen." Dieser Angriff trifft dabei gerade Menschen, die nicht darauf vorbereitet waren. Denn bis vor kurzem war für amerikanische Mittelklasse-Familien klar, dass die Zukunft nur eine Richtung kennt: nach oben. Zwischen Börsenhype und Immobilienboom nahm kaum jemand richtig wahr, dass das Wachstum der letzten Jahrzehnte weitgehend an der Mittelklasse vorbei ging.
Diese Erkenntnis ist nun in Zeiten der Krise mit Wucht angekommen. Die Mehrheit der Mittelklasse-Familien lebt von Gehaltsscheck zu Gehaltsscheck. Viele haben außerdem viel zu wenig Rücklagen beispielsweise für die Rente und die überwältigende Mehrheit der Mittelklasse-Amerikaner rechnet damit, dass es den eigenen Kindern noch schlechter gehen wird. Das stellt den amerikanischen Traum, in dem jeder etwas werden kann, wenn er es nur will, völlig in Frage. Außerdem rüttelt dieses Empfinden am Selbstverständnis eines ganzen Volkes.
Um jeden Preis ein zweites Konjunkturpaket
"Ohne wachsende Mittelschicht gibt es kein starkes Amerika", predigt Vizepräsident Joe Biden. Amerikanische Zeitungen titeln unterdessen: "Die Mittelklasse stirbt". Wer gestern noch ein schönes Haus hatte, muss heute vielleicht schon im Auto übernachten, weil er seinen Job verloren hat und die Hypothek nicht bezahlen kann. Besonders die Mittelklasse erkennt ungläubig, dass die USA zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg ein Problem mit Langzeitarbeitslosigkeit hat. Die acht Millionen Jobs, die in der Krise verloren gingen, wird es so schnell nicht wieder geben. Selbst gut ausgebildete Menschen finden keine Arbeit. Wenn dann die maximal 99 Wochen Arbeitslosenhilfe auslaufen, stehen auch sie vor dem Nichts.
Die Regierung ergriff eine Reihe von politischen Initiativen, um der Mittelklasse zu helfen: Die Arbeitslosenhilfe wurde beispielsweise verlängert und mehr Unterstützung bei der Kinderbetreuung bewilligt. Das alles ist jedoch nur ein Tropfen auf dem heißen Stein, weil sich an der düsteren Gesamtlage nichts ändert. Solange der Arbeitsmarkt nicht läuft und nicht neue Arbeitsplätze geschaffen werden, sind die Abstiegsängste der amerikanischen Mittelklasse sehr real.
Kritiker werfen Präsident Obama vor, er habe die Mittelklasse einfach vergessen. Manche Experten fordern zum Beispiel von der Regierung, um jeden Preis ein zweites Konjunkturpaket zu verabschieden. Sie warnen: Wenn die Mittelklasse einmal verschwunden ist, wird es sehr schwer, sie wieder aufzubauen.