Fachkräftemangel Müssen die Deutschen mehr arbeiten?
In Deutschland fehlen nach wie vor Tausende Fachkräfte. Daher fordern Politik und Wirtschaft, mehr zu arbeiten. Das klingt, als würden die Beschäftigten zu wenig leisten. Wird hierzulande tatsächlich zu wenig gearbeitet?
Beinahe alle Branchen in Deutschland leiden unter dem großen Fachkräftemangel, der die wirtschaftliche Entwicklung ausbremst. Dabei arbeiten die Menschen hierzulande so viel wie noch nie. Ist das nicht genug?
Denn Fakt ist: Noch nie wurde in Deutschland so viel gearbeitet wie derzeit - gemessen in Stunden, ermittelte das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW). Und das Statistische Bundesamt belegt: Die Zahl der Beschäftigten in Deutschland wächst und wächst. Im vergangenen Jahr ist sie auf ein Rekordniveau von 45,9 Millionen gestiegen.
Andererseits ermittelte das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung in Nürnberg jüngst: "Die Arbeitszeit war noch nie außer im Corona-Jahr 2020 so niedrig wie 2023." Das läge vor allem am hohen Krankenstand mit 15,2 Arbeitstagen und dem Rückgang der Überstunden. Und was stimmt nun?
Immer mehr Teilzeitarbeit - statt gar keiner Erwerbsarbeit
"Beides stimmt", sagt der Wirtschaftswissenschaftler Enzo Weber, Forschungsbereichsleiter am Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung in Nürnberg, im Interview in Update Wirtschaft auf tagesschau24. Denn die Zahlen seien Durchschnittswerte pro Kopf. Das Arbeitsvolumen insgesamt sei tatsächlich auf Rekordniveau, und das liege auch an mehr Teilzeit-Arbeitenden.
Es würden aber nicht "massig Vollzeitbeschäftigte weniger arbeiten", sondern es seien mehr Frauen erwerbstätig als früher. Dennoch sei die Arbeitszeit von Frauen in Deutschland niedrig, weil sie weniger arbeiteten, sobald sie Kinder haben.
Das DIW in Berlin beschreibt auf Basis kürzlich veröffentlichter Daten des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP), dass zwar seit 1991 (damals 16 Prozent) viel mehr Frauen arbeiten, nämlich 73 Prozent (Stand 2022), aber dass sich die Rollenverteilung im Haushalt kaum verändert hat und dass die Arbeitszeiten noch nicht den Wünschen entsprechen, wie viel Frauen tatsächlich arbeiten wollen.
"Über den gesamten Untersuchungszeitraum hinweg ist der Anteil von Frauen, die ihre Arbeitszeit aufstocken wollen, höher als bei Männern und schwankt stärker", so der Bericht.
Gerechtere Verteilung von Hausarbeit
Studien-Autorin Annika Sperling vom DIW rät, um mehr Frauen in den Arbeitsmarkt zu bringen, bedürfe es auch "einer gerechteren Aufgabenverteilung zwischen den Geschlechtern bei der Kinderbetreuung und im Haushalt". Die Politik könne das unterstützen - mit mehr Kita-Plätzen und Elternzeit für Väter.
"Kinderbetreuung ist ein wesentlicher Punkt", sagt auch Enzo Weber. Diese sei zwar enorm ausgebaut worden. Doch der Bedarf ist stärker gestiegen als das Angebot. Man könne sich von Skandinavien da einiges abschauen: "Wir könnten über eine Ausbildungsvergütung im Erzieherinnen-Beruf nachdenken und über höhere Löhne", rät Weber.
Für Erzieherinnen und Erzieher kommt womöglich einiges in Bewegung: Bundesfamilienministerin Lisa Paus hat zusammen mit den Ländern Empfehlungen vorgestellt, wie zum Beispiel in Kitas der Fachkräftemangel entschärft werden kann. Denn nach Angaben des Ministeriums könnten allein hier bis 2030 bis zu 90.000 Fachkräfte fehlen.
Daher sollen nun mehr ausländische Fachkräfte eingesetzt werden und ihre Anerkennungsverfahren vereinfacht werden. Außerdem sollen Umschulungen gefördert werden, etwa durch vergütete, praxisintegrierte Ausbildungen.
Neue Arbeitszeitmodelle und mobiles Arbeiten
Selbstbestimmte Arbeitszeitmodelle und mobiles Arbeiten sind laut Weber ebenfalls eine gute Lösung - für Frauen und Männer. "Vor allem die Selbstbestimmtheit bei Arbeitszeiten ist ein sinnvolles Ziel, betont Weber. Es sei nicht so, dass alle "dramatisch weniger" arbeiten möchten.
Nicht jeder brauche die Vier-Tage-Woche. Besser wäre eine Wahlarbeitszeit nach Lebensphase. Das bringe Zufriedenheit und Leistung. Es gehe nicht darum, dass alle mehr arbeiten: "Es zählt nicht nur, wie viel man in Stunden arbeitete, sondern was man daraus macht." Daraus entstehe der Wohlstand.
Das sieht Holger Schäfer vom IW Köln ähnlich: "Die Vier-Tage-Woche ist sicherlich kein Modell für alle. Es gibt viele Bereiche, Unternehmen, Branchen, wo die Produktivitätszuwächse, die man bräuchte, um diese Arbeitszeitverkürzung zu kompensieren, gar nicht möglich sind."
Deutsche arbeiten so viel wie im EU-Mittel
Weber warnte zugleich vor internationalen Vergleichen, wonach in anderen Ländern mehr gearbeitet würde als in Deutschland. Sie verzerrten die Realität: "Deutschland ist zum Beispiel erfolgreich im Ausbau der Frauen-Erwerbstätigkeit, aber damit geht insgesamt weniger Arbeitszeit einher." Vollzeitbeschäftigte in Deutschland arbeiten so viel wie im EU-Mittel. Darum sollte es nicht darum gehen, Vollzeit auszubauen, sondern Potenziale zu heben: "Bei den abknickenden Erwerbskarrieren von Frauen ist noch was drin oder bei Minijobs", fordert Weber.
Daten des DIW zeigen, dass vor allem geringfügig Beschäftigte - sprich Minijobber - häufig unterbeschäftigt sind - sowohl Frauen als auch Männer. Reformen der Lohnsteuerklassen und des Ehegattensplittings könnten aus Sicht der DIW-Studienautorin Autorin Annika Sperling etwa dazu beitragen, dass es sich für Zweitverdienerinnen und Zweitverdiener mehr lohnt, ihre Arbeitszeit über die Minijob-Grenze hinaus auszuweiten.
Anreize dafür seien wichtig und würden "in die richtige Richtung" gehen, erklärt auch Weber. Wer derzeit einen Minijob hat, kann nur 538 Euro monatlich steuerfrei verdienen. Überstunden sollen dagegen begrenzt werden, weil sie das Problem verschärfen. Das sieht auch das DIW so: Bestehende Rollenverteilungen könnten zementiert werden, erklärt Studien-Autor Mattis Beckmannshagen.